Ursprünge der föderalistischen Idee : Tocqueville und Proudhon

, von  Georges Navet, übersetzt von Inga Wachsmann

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Ursprünge der föderalistischen Idee : Tocqueville und Proudhon
Alexis de Tocqueville © Wikipedia

Montesquieu spricht kurz von etwas, das er « föderative Republik » nennt. Es geht ihm dabei um das Ergebnis eines Zusammenschlusses zwischen bereits zuvor existierenden politischen Einheiten, um eine « Gesellschaft der Gesellschaften », die die Vorteile einer Republik nach innen mit der Macht einer Monarchie nach außen kombiniert (Esprit des Lois – Vom Geiste der Gesetze IX, 1-11).

Aber umfassende und tiefgehende Überlegungen zum Föderalismus stammen von Alexis de Tocqueville (1805-1859) und Pierre-Joseph Proudhon (1809-1865). Beide gehen im Gegensatz zu Montesquieu von ihren Beobachtungen aus – die Vereinigten Staaten von Amerika bei Tocqueville und die Schweiz bei Proudhon –, ohne ihre Reflexion darauf zu beschränken.

Tocqueville und der Föderalismus der USA

Es sind die positiven Erfolg der Volkssouveränität in den Vereinigten Staaten, die Tocqueville faszinieren. Auf der kommunalen Ebene wird der demokratische Geist praktiziert, verankert und verfestigt. Die Kommunalbeamten werden auf ein Jahr gewählt. Wenn sie eine Neuerung einführen möchten – zum Beispiel eine Schule einrichten –, müssen sie alle Wähler einberufen, die Notwendigkeit und die Mitteln mit denen das Ziel erreicht werden kann erklären, etc. „Die Gemeinschaft entscheidet über all diese Punkte, den Grundsatz, den Ort, entscheidet über die Steuer“ und übergibt die Ausführung dieser Entscheidungen in die Hand der gewählten Vertreter (Von der Demokratie in Amerika – De la démocratie en Amérique, 1, V).

Wie muss man sich die kommunale Ebene in einem großen Ganzen vorstellen? Bereits auf der kommunalen Ebene sieht jeder, dass er Herr über „alles was nur ihn betrifft“ ist, aber dass es sinnvoll ist sich mit den anderen für gewisse Unternehmungen zusammen zu schließen. Er folgt den Führungspersonen nicht aus Untergebenheit oder Unfähigkeit sich selbst zu verwalten, sondern weil er sich bewusst ist, dass diese so gewinnbringende Vereinigung nicht ohne eine „regulierende Kraft“ existieren könnte“.

Das gilt für die Gemeinde und jeden Einzelnen: „die Kommunen sind dem Staat nur dann untergeordnet wenn es um Interessen geht, die ich sozial nennen möchte, d.h. ein mit anderen Kommunen geteiltes Interesse“. Die Staatsebene übernimmt das Ruder von der kommunalen Ebene wenn die Kommune den Herausforderungen nicht mehr alleine gerecht werden kann.

Die Ebene jedes Staates hat legislative und exekutive Gewalten. Die föderale Regierung kümmert sich um die Interessen und Probleme die den Staaten gemein sind und die kein einzelner Staat alleine bewältigen könnte. Dazu gehören Krieg und Frieden, internationale Handelsverträge, die Armee, Geldpolitik, Steuerrecht, etc. Was der Union nicht ausdrücklich zugewiesen ist liegt in der Macht der Staaten.

Jede Instanz hat innerhalb rechtlich begrenzter Schranken ihren eigenen Bereich. In der Praxis ist es jedoch schwierig jegliche Überschneidungen oder Konflikte zu vermeiden. Es ist Aufgabe des föderalen Hohen Gerichtshofs die Aufgabenteilung zwischen Staaten und der föderalen Regierung im Sinne der Verfassung sicher zu stellen.

Die zentrale Aufgabe des Rechts ist über die Einhaltung von Grenzen und Aufgabenzuteilungen jeder Ebene zu wachen. Richter und Gerichte können demnach die Anwendung eines Gesetzes, das ihnen nicht verfassugskonform (im Bezug auf die Verfassung des Staates oder der Union) erscheint, verweigern. Diese Kompetenz ist eine wichtige Hürde für einen möglichen Machtmissbrauch der Parlamente oder Mehrheiten.

Tocqueville zufolge besteht in dieser Rolle der Gerichte der große Unterschied der zwischen Frankreich und den Vereinigten Staaten von Amerika zu beobachten ist. In Frankreich gibt es eine doppelte Zentralisierung auf Regierungs- und Verwaltungsebene. In den USA ist nur die Regierung zentralisiert: die Union bedient sich nicht der Staaten um Entscheidungen umzusetzen sondern wendet sich direkt an die Bürger. Aber die Verwaltung ist nicht zentralisiert, denn die Beamten werden gewählt. Sie stehen damit nicht in einer Hierarchie die sie entlassen oder beschützen kann. Es ist Aufgabe der Gerichte sie für Rechtsbrüche zu bestrafen. Sicher bleiben sie unangreifbar wenn sie das Gesetz einhalten. Die Wähler können entscheiden sie wieder zu wählen oder nicht.

Der Zentralismus „à la francaise“ führt dazu, dass der Bürger sich nicht mehr für das Schicksal und die Interessen seiner Gemeinde interessiert und ihm das anfassbare politische Leben gleichgültig wird. Ein solcher „Bürger“ trotzt sobald die Gewalt sich entfernt dem Gesetz „wie ein besiegter Feind“. Er schwebt „zwischen Dienerschaft und Hemmungslosigkeit“ ohne jemals frei zu sein.

Proudhon und der föderale Vertrag

Die Zentralismuskritik des Proudhon steht der von Tocqueville in nichts nach, kritisiert aber gleichermaßen den Kapitalismus. Die Revolution von 1789 musste zerstören und neubegründen. Sie hat etwas zerstört – das „Ancien“ (Alte) – aber hat es nicht geschafft das Neue zu organisieren. Sie hat die Gesellschaft dem wirtschaftlichen Zufall und Anarchismus sowie einem politischen Autoritarismus überlassen, der in den Jahren 1793-1794 den Höhepunkt fand. Im Namen einer fiktiven Einheit (dem „Volk“ - peuple) die sie zu vertreten behauptet, kann sich die zentralisierte Macht immer gegen diese oder jene real existierende Bevölkerungsgruppe wenden. Wenn die Zentralmacht zum Spielball des Kapitals wird, kann sie auch zum Spielball anderer Kräfte werden. Es entsteht die Illusion, dass man lediglich Herr des Zentrums werden muss, um alles reformieren zu können.

Diese verhängnisvolle politische Annahme bedeutet die Gesellschaft von oben reformieren zu wollen und damit eine Hierarchie durch eine neue zu ersetzen. Der eigentliche Umbruch kann jedoch nur innerhalt der Gesellschaft selbst erfolgen. Die Gesellschaft tendiert grundsätzlich zur Freiheit, zur Souveränität jedes Einzelnen und einer allgemeinen Konkurrenz. Was aber passierte war die Rückkehr zum Feudalismus, diesmal kapitalistischer Art, die die Konkurrenz nur den Privilegierten eröffnet.

Der Umbruch ist verantwortlich für die allgemeine Anwendung des frei verhandelten Vertrags zwischen zwei oder mehreren individuen, die sich damit gegenseitig binden und gegenseitig eine gewisse Anzahl an Dienstleistungen, Waren, Vorteilen, Pflichten, etc. zusichern. Der Gesellschaftsvertrag muss seine Inhalte und die Dauer seiner Gültigkeit genau festlegen. Diese „Gegenseitigkeit“ der 1850er Jahre wird Stück für Stück in einem „Föderalismus“ aufgehen, den Proudhon 1863 in Vom föderalen Prinzip (Du principe fédératif) aufgreift.

Autorität und Freiheit werden gegenübergestellt. Sie sind untrennbar miteinander verbunden, die Frage ist was von beidem überwiegt. Dank dem politischen, dem föderalen Vertrag ist es möglich Richtung immer mehr Freiheit zu gehen. Wichtigstes Element ist dass die „Vertragsparteien, Familienoberhäupter, Kommunen, Kantone, Provinzen oder Staaten sich einander nicht nur „synallagmatisch“ [auf Gegenseitigkeit beruhend] und kommutativ [ohne nachträgliche Änderungen] verpflichten sondern sich durch den Pakt selbst mehr Rechte, Freiheiten, Autorität, Besitz sichern als sie abtreten...“ (op.cit. 1, VII).

Der föderale Vertrag garantiert den vereinigten Staaten ihre Souveränität, die Freiheit ihrer Bürger, die Macht ihre Streitigkeiten zu regeln. Ein wichtiger Aspekt ist „die mit der Ausführung [des Vertrags] beauftragte Autorität kann sich niemals über ihre Bestandteile stellen (…) die Anzahl und die Realität der föderalen Aufgaben können niemals die Aufgaben der Kommunen und Provinzen übersteigen sowie Letztere nie über den Rechten des Menschen und des Bürgers stehen können. Wenn dies anders wäre, würde die Kommune eine Gemeinschaft sein; die Föderation würde zu einer zentralistischen Monarchie werden; die föderale Instanz, die einfacher Vertreter und untergeordnete Instanz sein muss, würde als übermächtig wahrgenommen werden; anstatt sich auf ganz bestimmte Dienstleistungen zu beschränken würde sie jegliche Aktivität und Initiative an sich reißen; die vereinigten Staaten würden in Präfekturen, Verwaltungen, Filialen oder staatliche Unternehmen verwandelt werden“.

Der föderale Staat hat für alles was das allgemeine Interesse der Gesamtheit angeht eine „Legislativ-, Initiativ- und Repräsentativfunktion“. Er hat keinstenfalls eine Exekutivfuntion. Er stößt an, geht mit gutem Beispiel voran, bevor er sich zurückzieht und den lokalen Verantwortlichen und den Bürgern die Ausführung einer neuen Dienstleistung überlässt.

Proudhon versucht jedes Übergreifen von oben nach unten zu verhindern. Er hat nie behauptet Konflikte zu vermeiden, im Gegenteil. Der Föderalismus nährt sich wie alles was lebendig ist aus Konflikten und spannungen. Die Spannungen enden nicht in Gewalt weil über der menschlichen Willkür das Recht steht oder die Idee von Gerichtbarkeit und Gerechtigkeit die jedem innewohnt, sich aber erst Stück für Stück anlässlich der Lösung von Problemen entwickelt.

Als Institution können die Gerichte selbstverständlich nur unabhängig von der Zentralmacht sein. Sie spielen wie bei Tocqueville eine fundamentale Rolle.

Proudhon vertritt einen Föderalismus in allen Lebensbereichen. Neben den territorialen Gruppierungen würden „Landwirtschafts- oder Industrieföderationen“ entstehen, um Bereiche wie die Kommunikation oder den Kredit zu organisieren und aufrechtzuerhalten. Ihre Aufgabe ist es die „Bürger der Staaten die sich zusammengeschlossen haben vor der kapitalistischen Ausbeutung und der Tyrannei der Banken zu schützen“ (ebd.). Diese Wirtschaftsföderationen hätten genauso wie die territorialen Einheiten Delegierte im föderalen Legislativrat.

Nur bereits föderal organisierte Staaten können sich zu einer Föderation zusammenschließen. Der Einheitsstaat bleibt letztendlich mit seinem feudalen und hierarchischen Kern immer in enger Beziehung zum Krieg. Er ist also, da ist Proudhon mit Tocqueville einer Meinung, grausam in der Offensive. Der Föderalstaat hingegen ist in der Defensive grausam, da jeder Mitgliedstaat gegenüber einem Feind mit der gesamten Kraft der Föderation verteidigt wird.

Proudhon ist stärker „dezentralistisch“ als Tocqueville, stärker auf die Autonomie der Basis und die sozialen Probleme aus. „Wer Sozialismus sagt, sagt Föderation oder nichts“, schreibt er.

Die Gemeinsamkeiten der Autoren sind frappierend. Ihr Wunsch ihr Sein und ihre Macht nicht an souveräne Individuen abzutreten, die zentrale Rolle der Gerichte und Gesetze, die klare Abgrenzung der Kompetenzen, etc. All das grenzt sie eindeutig vom Pseudoföderalismus eines [Maurice] Barrès oder [Charles] Maurras ab, deren Regionalismus lediglich eine Rückkehr zum Provinzialismus des Ancien Regime ist.

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