Als Viktor Orbán 2002 aus der Regierung gewählt wurde, gab er bekannt, dass die in seiner Partei Fidesz verkörperte Nation nicht in der Opposition sein könne. Schon das war ein Vorgeschmack auf sein wenig demokratisches Verständnis, das nach seinem erneuten Wahlsieg von 2010 deutlich werden sollte. Mit 53 Prozent der Stimmen errang Fidesz zusammen mit der christdemokratischen KDNP eine Zweidrittelmehrheit im ungarischen Parlament. Orbán rief kurzerhand eine „nationale Revolution“ aus, die sich als grundlegender Systemwechsel entpuppte, um den ungarischen Staat gänzlich auf ihn und seine Partei zuzuschneiden.
Mit der ab 2012 in Kraft getretenen Verfassung – von der vor der Wahl keine Rede war – verfolgt Orbán das Ziel, seine Macht unabhängig von künftigen Wahlausgängen zu zementieren, wie der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller in seinem Essay Wo Europa endet. Ungarn, Brüssel und das Schicksal der liberalen Demokratie darstellt: Orbáns „Strategien zielen nicht auf einen offenen autoritären ‚Führerstaat‘, aber doch auf eine hochzentralisierte, in Teilen illiberale Demokratie, die das Gefüge von checks and balances systematisch unterminiert, die Medien einschüchtert oder de facto direkt kontrolliert, die Zivilgesellschaft schwächt – und die es zumindest sehr wahrscheinlich macht, dass Fidesz bis auf Weiteres Wahlen gewinnt.“ Die Fidesz will also nicht nur regieren, sondern den Staat in Gänze erobern.
Legitimation durch Mystik, Ethnos und Geschichtsrevisionismus
Während Viktor Orbán den autoritären Umbau vollzieht, betreibt seine Fidesz-Zweidrittelmehrheit eine völkisch-nationale Politik, um der „nationale Revolution“ die nötige Legitimation zu verleihen. Die Zugehörigkeit zur ungarischen Nation ist nun dank ihrer Bemühungen ethnisch definiert und erhielt Verfassungsrang. Angehörige anderer ethnischer Minderheiten sind nicht Bestandteil der ungarischen Nation, sondern werden lediglich als „staatsbildender Teil“ (Präambel Grundgesetz) Ungarns verstanden.
Zeitgleich betreibt Orbán eine Mystifizierung der Ur-Magyaren – einem Urvolk -die einst unter Führung eines vogelartigen Fabelwesens, dem Turul, von Asien nach Europa übergesiedelt sein sollen. In ihnen sieht er die Vorfahren der heutigen ethnisch definierten Ungarn. Damit greift Orbán das in Ungarn weit verbreitete Misstrauen gegenüber anderen Minderheiten auf und institutionalisiert es im Sinne seines Machterhalts.
Internationale Aufmerksamkeit erhielt Orbán für eine Rede zur Einweihung eines Turul-Denkmals 2012 in Ópusztaszer. So stünde, laut Orbán, der Turul für das Urbild der Ungarn: „Wir werden in es hineingeboren, so wie wir in unsere Sprache und Geschichte hineingeboren werden. Das Urbild gehört zum Blut und zum Heimatboden.“ In der gleichen Rede rief er drohend zur Vereinigung aller Ungarn unter einem Vaterland auch jenseits der Trianon-Grenzen von 1920 auf und bezichtigte Befürworter der doppelten Staatsbürgerschaft der Illoyalität, die die Nation spalten würden. Die Diskriminierung von ungarischen Staatsbürgern anderer Minderheiten als fremdartig oder fremdherzig ist damit bereits strukturell im Umbau des Staates angelegt.
Nationaler Umbau auf Kosten der ungarischen Juden
Im Zuge dieses völkisch-nationalen Taumels werden insbesondere Juden der Illoyalität gegenüber der ungarischen Nation bezichtigt. So hält der Sozialwissenschaftler Klaus Holz in seiner Theorie des nationalen Antisemitismus fest: „Die ‚Juden‘ werden nicht als die andere Nation, sondern als Negation der Unterscheidung zwischen Nationen vorgestellt.“ Auf Ungarn bezogen werden sie folglich nicht nur als fremder Bestandteil begriffen, sondern aufgrund ihrer Jahrhunderte langen diasporischen Lebensweise als Antination schlechthin verstanden. Dadurch würden sie aber das Konzept Nation überhaupt in Frage stellen.
Die konkrete ungarische Realität hinter dieser theoretischen Überlegung spiegelt sich im Handeln von Orbáns Kabinettsmitgliedern wider. Zoltán Balog, Minister für Nationale Ressourcen, verlieh in diesem Jahr einen Journalistenpreis an Ferenc Szaniszló, der 2009 in einem Fidesz-nahen Fernsehsender im antisemitischen Ton verkündigte, dass sich die Welt auf eine erneute Aussiedlung der Juden aus Israel vorbereiten müsse. Nach heftiger Kritik aus dem In- und Ausland wurde der Preis von Szanisló mittlerweile wieder zurückgegeben.
Auch gesamtgesellschaftlich verbreitet sich der antisemitische Wahn, wie erschreckende Zahlen aus entsprechenden Umfragen verdeutlichen: 34 Prozent bejahten 2011 die Frage, ob ein „geheimes jüdisches Zusammenwirken“ die Politik und Wirtschaft in Ungarn bestimme. 2002 waren es 22 Prozent gewesen. Orbán kann sich seine Lippenbekenntnisse gegen den Antisemitismus also sparen – er und seine Politik sind Teil des Problems.
1. Am 15. Juni 2013 um 09:39, von Kovács Als Antwort Ungarn: Autoritarismus und Antisemitismus – zwei Seiten einer Medaille
Sehr geehrter Herr Kunath!
Ich habe nach einigen deutschsprachigen Artikel über Orbán auch Ihren gelesen und muss sagen, dass Sie sich hervorragend an den westeuropäischen Mainstream anpassen. Ihr Artikel ist nicht nur einseitig recherchiert, sondern lässt auch absolut kein Wissen über Politik, ihre Mechanismen und Prozesse durchblicken. Ich finde es sehr schade, dass die deutschsprachige Presse (zu der ich Sie zweifellos hinzufügen darf) Artikel nach Ihrem Schema wie auf dem Fliessband produziert. Quellen wie Ihre, einfach unreflektiert zu übernehmen und wirre Zusammenhänge zu basteln ist eines Politikwissenschaftlers und Soziologen einfach nicht würdig. Sagen Sie, waren Sie denn schon mal in Ungarn? Haben Sie sich, abseits der blinden Quellen, mit der jüdischstämmigen und auch anderen „nicht-ungarischer“ Bevölkerungsgruppen in Ungarn unterhalten ? Wohl kaum, sonst hätte Ihre Wahrnehmung des Bösen in Ungarn doch Schaden genommen. Sie wären draufgekommen, dass Ungarn ein sehr lebenswertes und offenes Land ist, dass nach 2 Weltkriegen und 40 Jahren Sozialismus seine Identität wiederfinden will und nicht als Spielball der globalen Finanzwelt untergehen will. Das nicht alle Methoden jedermans Geschmack sind, mag so sein, der Regierung mangelndes Demokratieverständnis zuzusprechen, finde ich persönlich ein Zeichen von mangelndem Wissen. (kleiner Tipp: „Andreas Unterberger“s Tagebücher über Ungarn sind zu empfehlen) Ich bin kein Jurist, habe mir allerdings die Mühe gemacht die Verfassungsänderungen zu lesen. Darin finde ich Formulierungen, die in der deutschen Verfassung oder in der französischen Verfassung etwas abgeändert, aber inhaltlich gleich sind. Warum wird Ungarn angegriffen, alle anderen Staaten nicht ? Minderheiten haben in Ungarn mehr Rechte, als sonstwo in den Transformationsländern. Durch die Änderung der Verfassung wurden diese sogar ausgeweitet. Ganz anders sieht es in Rumänien, der Slowakei und Serbien aus, wo ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung ungarischsprachig ist. Dort sind legal alle Rechte der Minderheiten zugesichert, in der Praxis werden diese mit Füßen des Chauvinismus und Nationalismus getreten.. Das interessiert in Deutschland vermutlich niemanden, nicht wahr? Sie vermutlich auch nicht.. Meiner Meinung nach, hat es sehr wenig Sinn einen Artikel über das heutige Ungarn zu schreiben, wenn man nicht fähig ist kritisch zu denken und die vielschichtigen Quellen aus verschiedenen politischen und gesellschaftlich- ideologischen Richtungen zu lesen und Unterschiede herauszuarbeiten. Lesen Sie nicht nur die „Népszabadság“ sondern vielleicht auch zum Drüberstreuen die „Magyar Nemzet“...
Ich vermute, dass Sie für Ihren Artikel viel Lob in den eigenen Reihen ernten werden. Seien Sie sich aber dessen bewußt, dass die andere Seite der Medaille, wie Sie es nennen, ganz anders aussieht... Viel Erfolg bei Ihrer Arbeit!
mfg Kovács
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