Es ist eine Frage, die seit dem Zusammenbruch von „Lehmann Brothers“ die Staats- und Regierungschefs umtreibt: Welche international geltenden Grenzen können dem Finanzsektor auferlegt werden, ohne den Markt und ganze Staaten zu gefährden? Bisher wird darüber meist abgeschottet in Hinterzimmern debattiert. Die Bevölkerung kann die Ergebnisse der Minister und Regierungschefs am Ende nur abnicken. Das soll sich nun ändern. Mit Hilfe eines Fragebogens eröffnet das Europäische Parlament der Bevölkerung bis zum 14. Juni 2013 die Möglichkeit, Ideen für eine Finanzmarktregulierung einzureichen. Geklärt werden soll, wie die Regulierungen des Finanzsystems konsistenter und einfacher werden können. Neben der Befragung veranstaltet der Wirtschafts-, und Finanzausschuss des Europäischen Parlaments auch Diskussionsforen zu dem Thema. Mit von der Partie sind große NGOs wie ATTAC.
Auch wenn die Beteiligung in erster Linie informeller Natur ist, denn alles andere würde dem parlamentarischen Prinzip auf EU-Ebene widersprechen, das Ziel ist klar: Ein einheitliches Gesetzbuch zur Finanzmarktregulierung auf europäischer Ebene. Der sogenannte „Single Rulebook“ soll mit Ideen und Meinungen aus der Gesellschaft gefüllt werden. Zudem soll die Euro-Krise und die weltweite Verstrickung des Finanzsektors für die Bürgerinnen und Bürger fassbarer werden. Die Möglichkeit der Beteiligung am „Single Rulebook“ ist damit eine Maßnahme, um der Volkssouveränität wieder mehr Gewicht zu verleihen. Hinzu kommt, dass der Buchstabensalat der hochkomplexen Thematik Finanzmärkte (CRD IV, EFS, EFSF) entwirrt werden soll.
Der Zerfall des europäischen Finanzmarktes
Für Andrew Haldane, Exekutivdirektor der „Bank of England“, eine längst überfällige Maßnahme: „Einfachere Gesetze umzusetzen und verständlicher zu werden ist keine Ignoranz gegenüber Einzelfall-Gerechtigkeit, sondern Mittelpunkt einer demokratisch legitimierte Gesetzgebung für unsere Finanzmärkte“. Haldane sieht eine alltägliche Ungewissheit, mit der die Bevölkerung konfrontiert ist. Ein schleichender Prozess der Fragmentierung des gemeinsamen Finanzmarktes in Europa durch die Zunahme radikaler Ansätze sei die Folge.
Von der Hand zuweisen sind seine Feststellungen nicht: So ist der Anteil der grenzüberschreitenden Kredite auf den Geldmärkten zwischen Mitte 2011 und 2012 von 60 auf 40 Prozent gesunken. In mehreren Ländern haben die ausländischen Bankeinlagen das niedrigste Niveau seit Anfang 2008 erreicht. Banken nutzen zunehmend inländische Sicherheiten beim Zugang zu EZB-Fazilitäten. Fehlendes Vertrauen nicht nur gegenüber ausländischen Banken sondern auch inländischen Geldhäusern verstärkt die Entwicklung. Vor allem die Bankensysteme in Spanien, Griechenland und neuerdings auch Zypern sind in eine starke Abhängigkeit gegenüber der Zentralbankliquidität geraten.
Europa der zwei Geschwindigkeiten
Doch auch die Akteure auf den Finanzmärkten nehmen unterschiedlich rege an der Demokratisierung und der Pro-Europäisierung ihres Branchenbereichs teil. So sind die Unterschiede in der Geschwindigkeit der Umsetzung von neuen Finanzmarktstrukturen europaweit groß. Dies zeigt beispielsweise Solvency-II. Diese Richtlinie entwickelt die Finanzmärkte bei großen Versicherungsunternehmen weiter. So wird die Drei-Säulen-Strategie der Europäischen Union, die heute zur Krisenstrategie geworden ist, hier bereits durchgesetzt: Mindesteigenkapitalerhöhung, Ausweitung des Risikomanagements und Verbesserung der Berichterstattungspflichten an den Märkten. Mit anderen Worten: Mehr Regulierung und Kontrolle und sicherere und verlässlichere Finanzmärkte bezüglich Versicherern.
Großbanken und börsennotierter Industrieunternehmen sind von solchen Regelungen noch weit entfernt. Dabei fordert auch der Banken-Verband (Vertreter deutscher Banken), „dass alles getan werden muss, um eine Finanzmarktkrise in Zukunft zu vermeiden“. Schließlich sind selbst die im Kern unserer Krise befindlichen Banken über unvorhergesehen Verluste keineswegs glücklich. Der Weg zu einem sicheren, vor allem planbaren Finanzmarkt geht für Großbanken aber nicht in erster Linie über den Staat, also der Vertretung des Volkes. Anstatt mehr Volkssouveränität wünschen sich die Banken eine Nutzung des Financial Stability Board. Das wohl am weitesten von der Bevölkerung entfernte Gremium der Krise, dass über die Finanzmarktstabilität wachen soll, gibt es bereits seit 1999 – damals noch als Forum für Finanzstabilität – und ist teilweise von Vertretern der Großbanken besetzt. Gerade hier einen Wandel des Systems vorantreiben zu wollen ist nicht nachvollziehbar. Schließlich hat das Financial Stability Board die Krise nicht verhindern können und die dort sitzenden Köpfe müssen sich immer noch der Vermutung entgegenstellen, nicht Herr der Lage zu sein.
Finanzmarkt doch zu komplex?
Abschließend lässt sich also sagen: Ob das Vorhaben, die Bürgerinnen und Bürger mit zu beteiligen gelingen wird, hängt von der Kenntnis über solche Vorstöße der Volksbeteiligung ab. Denn für Europapolitiker ist klar, dass die Gesellschaft Ideengeber von politischen Agenden sein kann und muss, wie die zunächst von ATTAC postulierte Finanzmarkttransaktionssteuer zeigt. Gerade bei hochkomplexen Themen wie dem Finanzmarkt trifft dies zu. Politiker können nicht alles wissen. Und die Binsenweisheit, dass umso mehr Köpfe am gemeinsamen Ziel arbeiten, umso eher das genannte Ziel erreicht wird, gilt auch in der Politik. Beim Durchblicken der Aktenordner in den Büros von ATTAC und Finance Watch können sicherlich noch viele interessante Ansätze gefunden werden. Der Fragebogen des Wirtschafts- und Finanzausschuss richtet sich wohl gerade deshalb auch an diese ehrenamtlich Engagierten in den Nichtregierungsorganisationen. Viele offene Fragen und eine fach- und themenspezifische Sprache mögen nicht allen Bürgern und Bürgerinnen eine Beteiligung ermöglichen. Doch der erste Schritt ist getan, Europas Bürgern mehr Einfluss auch in einer hochkomplexen Materie zu gewähren.
Foto: Astrid Kopp / Flickr - (cc-by-nc-sa)
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