Seit Jahrhunderten neu

Die Idee von Europa ist älter als die Europäische Union und immer im Wandel.

, von  Francesco Giammarco

Seit Jahrhunderten neu
Europa als eine Königin (Ausschnitt) Gedruckt von Sebastian Munster in Basel 1570.

Eigentlich wünscht man sich doch, dass die EU mehr ist als eine Wirtschaftsgemeinschaft. Dass dieses schwer zu durchschauende Phänomen der Europäischen Union Ausdruck von politischem und gesellschaftlichem Willen ist. Dass wir nicht nur in ihr leben wollen, weil es das Handeln erleichtert, sondern weil wir alle nicht nur Deutsche, Italiener, Franzosen, Polen oder Spanier sind, sondern eben auch Europäer. Man fühlt sich schließlich immer als Europäer, ganz ohne mit seiner Nationalität in Konflikt zu geraten. So wie man Bayer und gleichzeitig Deutscher ist, Franzose und gleichzeitig Pariser.

Die Geschichte gibt unserer europäischen Identität Recht: Denn die deutsche Geschichte war eben nie nur deutsche Geschichte, sondern immer eine Geschichte von Nachbarschaft.

Die Geschichte zeigt aber auch, dass europäische Identität schwer zu greifen ist. Sie ist nicht vorausgesetzt, auch wenn man auf dem Kontinent geboren wurde. Und schon gar nicht hat sie viel mit der EU zu tun. Dafür ist sie viel zu alt. Konzepte europäischer Identität sind gekommen und gegangen, sie haben sich verändert und sie waren immer Ausdruck ihrer Zeit. In der Tat scheint es sogar Zeiten gegeben zu haben, in denen die Bewohner unseres Kontinents weitaus europäischer waren als heute.

Das christliche Europa

Das 15. Jahrhundert war nicht gerade unbedeutend für die europäische Identität. Zum ersten Mal einigte sich Europa, zum ersten Mal tauchte die Vorstellung von einem Gesamteuropa auf. Die erste europäische Identität entstand, so wie Gemeinschaftssinn oft entsteht, durch ein gemeinsames Feindbild.

Durch den Vormarsch der „heidnischen“ Osmanen aus dem Morgenland fühlte sich der ganze Kontinent bedroht. Militärisch konnte man ihnen nur durch Zusammenhalt begegnen. Die „Türkengefahr“ verschob die Grenzen des Christentums und reduzierte es auf Europa. Diese Gefahr wirkte integrierend. Es entstand die Idee einer christlichen Republik Europa.

Getragen wurde diese europäisch-christliche Identität – ähnlich wie heute – von den Eliten. Die bestehenden und untereinander verheirateten Herrschaftsdynastien beherrschten die europäische Politik, Kultur und Wirtschaft. Die Habsburger in Österreich, die Bourbonen in Frankreich und die Medici in Italien. Sie bildeten eine soziale Gruppe, die über Bildung und Wissen verfügte und waren fähig, politisch und ökonomisch zu gestalten. Sie waren der erste europäische Demos, das erste europäische Staatsvolk.

Europa der Aufklärung

Das Zeitalter der Aufklärung gilt als einer der wichtigsten Abschnitte in der Geschichte der europäischen Identität. Im Rahmen der Aufklärung wandelte sich diese Idee. Die europäischen Staatsvölker, die bisher noch von Herrschaftshäusern getragen wurden, wurden ersetzt durch ein Bürgertum, durch Intellektuelle, freie Händler, und soziale Gruppen, die das europäische Netzwerk der Aufklärung bildeten. Denker wie Kant und Voltaire, Diderot und Herder bildeten sich nun ihre eigenen Vorstellungen von Europa.

Wieder waren es Eliten, die die europäische Idee trugen. Ihre europäische Identität wurde jedoch differenzierter, schärfer. Es war nicht mehr allein die Religion, die integrierte. Es entwickelte sich eine europäische Bürgerschaft der Aufklärung, die sich grenzüberschreitend an wichtigen Diskursen beteiligte, die gleichen politischen Grundideen teilten, ähnliche Geschichtsvorstellungen hatten, und eben das gemeinsame Interesse teilte, die Aufklärung europäisch zu gestalten.

Die Europäisten des 20. Jahrhunderts

Im 20. Jahrhundert bildete sich ein neues europäisches Kollektiv. Die sogenannten Europäisten. Die Erfahrung des Ersten Weltkrieges hatte die Angst vor dem politischen, ökonomischen und kulturellen Untergang Europas geschürt. Man kann sagen, die Reaktion auf den auf europäischem Boden ausgetragenen Krieg war ein neues Europäertum. Viele Schriftsteller zählten zu den Europäisten, etwa Thomas Mann und vor allem Stefan Zweig. In seiner „Welt von gestern“ beschreibt der österreichische Schriftsteller das Europa jener Zeit, ein Europa von Künstlern und Intellektuellen, reich an kultureller Vielfalt.

Es war eine sehr heterogene Europabewegung, sie bestand aus Protestanten, Katholiken, jüdischen Intellektuellen, Linken und Rechten. Für viele von ihnen bedeutete der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges das Ende einer Utopie.

Europa vieler Völker

Die Europaidee der Nachkriegszeit gründete vornehmlich auf der Friedensbedürftigkeit der europäischen Nationen und der Frage, wie man ein immer weiter erstarkendes Deutschland integrieren könnte. Mit der Gründung des Europarates gab man sich 1949 nicht nur eine erste europäische Institution, sondern auch mit der Europaflagge ein erstes europäisches Identitätssymbol. Mit der Gründung der EGKS 1951 und den Römischen Verträgen von 1957 begann eine politische Integration die bis heute einzigartig ist.

Die Identitätspolitik der EU ist in diesem Verhältnis jedoch noch relativ jung. Sie begann mit dem Kopenhagener Dokument zur Europäischen Identität 1973 und bedient sich bis heute hauptsächlich Identitätssymbolen des Nationalstaates, wie Flaggen und Hymnen. Dabei will die EU doch gar kein Staat sein. Wir leben heute in einem Europa vieler Völker. Nicht in vielen Ländern voller Europäer. Vielleicht liegt genau hier das Problem der Europäischen Identität des 21. Jahrhunderts. Zum ersten Mal stand die Integration vor der Identität. Man hat Europa gebaut, die Identität sollte folgen.

Die EU ist ein einzigartiges Projekt, ein Imperium der Gewaltlosigkeit. Aber bei aller Begeisterung für die historische Leistung, bei allem Interesse für die institutionelle Komplexität, bei allem Idealismus für ein geeintes Europa: Man sollte vielleicht aufhören, europäische Identität und die EU zusammen zu denken. Vielleicht tut man Europa sogar einen gefallen.

Dieser Artikel erschien im neuen gedruckten Treffpunkt Europa, Mitgliedermagazin der JEF-Deutschland. Die aktuelle Ausgabe widmet sich Fragen der Identität und ist auf der JEF-Webseite kostenlos erhältlich. Treffpunkt Europa online veröffentlicht drei Artikel aus dem gedruckten Heft.

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