Zivilgesellschaft unter Generalverdacht
Nach mehr als einem Jahr seit dem Wiedereinzug Putins als Präsident Russlands sind viele einschränkende Gesetze für die Zivilgesellschaft erlassen worden. Drei davon stehen im besonderen Fokus:.
Das sogenannte „Agentengesetz“, welches systematisch und strukturell die Arbeit regierungskritischer Organisationen zu verhindern versucht, indem es die Aktivisten als „fremde Agenten“ stigmatisiert und unter dem Deckmantel der Sicherheit Russlands zahlreiche Überwachungsmöglichkeiten installiert. Inhalt des Gesetzes ist maßgeblich die Registrierungspflicht für Organisationen, die Geld aus dem Ausland beziehen. Die Berichtspflicht und Kontrollmöglichkeiten des Staates führen dazu, dass binnen eines Jahres 90 Prozent dieser so stigmatisierten Organisationen ihre Arbeit einstellen mussten.
Wer glaubt, es handle sich hierbei maßgeblich um revolutionäre Gruppen hat sich getäuscht. So wird flächendeckend auch gegen unpolitische Organisationen vorgegangen, wie gegen den „Angler- und Jäger-Verein“ in der Wolgastadt Jaroslawl. Durch den von der Duma beschlossene Regelungskatalog scheint nicht nur eine kritische, sondern eine aktive Zivilgesellschaft in weite Ferne gerückt zu sein. Putin weiß spätestens seit den Protesten nach seiner Wahl, dass eine Zivilgesellschaft eine gute gesellschaftliche Opposition sein kann. Gebrauchen kann er diese nicht.
Bereits vier Wochen nach seiner Wahl durchlöcherte Putin das Demonstrationsrecht. Enorme Verschärfung der Auflagen, härtere Genehmigungspflichten und stärkere Überwachungen von Versammlungen sind wohl die einschneidensten Neuerungen. Werden diese nicht eingehalten, droht den Veranstaltern und Teilnehmern eine Geldstrafen in Höhe von 300.000 Rubel (etwa 7.100 Euro) und Gefängnis.
Zuletzt ist das Verbot der „Propaganda von nicht-traditionellen sexuellen Beziehungen gegenüber Minderjährigen“ zu nennen. Faktisch werden jedoch jegliche Aktivitäten von Menschenrechtsaktivisten verboten, die sich gegen eine Diskriminierung von homo- und trannssexuellen Personen (LGBT) engagieren. So wurden Demonstrationen, Artikel im Internet oder ähnliches durch den repressiven Apparat des Kremls faktisch unmöglich gemacht. In der täglichen Arbeit von LGBT-Aktivisten führt dies zur ständigen Angst vor Verhaftungen. Wie viele Menschen verurteilt wurden, lässt sich nicht genau bestimmen. Allerdings werden etliche Aktivisten bei Demonstrationen in Gewahrsam genommen, der öffentliche Raum wird ihnen damit verwehrt.
Dieses Vorgehen führte jüngst zu der Frage, inwieweit die internationale Gemeinschaft bei den olympischen Winterspiele in Sotschi auf diese homophobe Gesetzgebung reagieren soll. Leider wurden [Aktionen wie die der LGBT-Sportorganisation >http://www.theatlanticwire.com/global/2013/09/sochi-wants-ioc-back-them-against-anti-gay-law-speculation/69172/], welche mit Aufklebern und Anstecknadeln auf die Missstände hinweisen wollten durch das Internationale Olympische Komitee (IOC) verboten.
Diese drei bewusst ausgewählten Gesetze und die Aktionen der Regierung und des Verwaltungsapparates zeigen, wie miserabel es um die aktuelle menschenrechtliche Situation in Russland steht. Das trifft besonders die Zivilgesellschaft.
Russland vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
Russland ist als Mitglied des Europarates dazu verpflichtet, den Personen Rechte und Freiheiten innerhalb des Hoheitsgebietes zu gewährleisten. Spätestens seit der Ratifizierung des 14. Zusatzprotokolls der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) durch Russland, 2010, ist auch der Weg einer Individualbeschwerde für Menschen in Russland möglich. Das Land ist in der Statistik des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auf Platz drei der Verurteilungen und auf Platz eins was die anhängigen Verfahren angeht. Ein Viertel dieser stammten 2007 aus Russland. Zwar wurden die meisten davon abgewiesen. Dies geschah aber nicht wegen Unbegründetheit, sondern aufgrund von Zulässigkeitsfehlern.
Diplomatischer Druck muss her, um die Verletzungen im Vorfeld zu verhindern. Doch die Europäische Union weigert sich, ihr Gewicht in die Waagschale zu werfen. Zwar ist die EMRK (noch) nicht unmittelbar mit der Europäischen Union verbunden, jedoch müssen die gemeinsamen Werturteile, die auch als integraler Bestandteil des Selbstverständnisses der EU betrachtet werden, nach außen ersichtlich sein.
Chance vertan – G20 Gipfel nicht genutzt
Eine dieser politischen Chancen gab es beim Treffen der G20 in Sankt Petersburg. Während sich Präsident Obama am Rande des Gipfels mit Aktivisten aus Russland traf, konnten sich weder die Vertreter der Europäischen Union, noch der einzelnen europäischen Staaten zu diesem Schritt durchringen.
Dabei scheint es nicht so schwer zu sein, menschen- und bürgerrechtliche Standards an wirtschaftliche Beziehungen zu knüpfen. Etwa bei Diskussionen rund um das Aussetzen der Verhandlungen über das Freihandelsabkommen seitens der Europäischen Union gegenüber der USA nach dem öffentlich werden der NSA Affäre. Eine Sanktionierung von menschenrechtswidrigem Verhalten ist möglich, jedoch braucht es dafür politisches Feingefühl und Mut.
Durchsetzung von universellen Menschenrechten als europäische „Staatsräson“
Menschenrechte sind universell und allgemeingütlig. Als Mitglied der Vereinten Nationen ist Russland die politisch-rechtliche Verpflichtung eingegangen, den Menschenrechten im nationalen Rechtssystem volle Geltung zu verschaffen.
Indem Russland strukturell und fortlaufend gegen menschenrechtliche Belange verstößt, bleibt es hinter ratifizierten Übereinkommen und der humanistischen Werteordnung zurück. Europa scheint dies nicht weiter zu interessieren. Wie sonst ist es zu erklären, dass es seitens der EU keinen politische Druck gibt. Die Durchsetzung von Menschenrechten ist und bleibt eine globale Aufgabe. Wenn die EU ihrem Selbstverständnis gerecht werden will, muss sie endlich aktiv werden!
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