Wer auf dem Filmfestival von Cannes als Filmemacher auffallen will, muss überraschen. In 67 Jahren Geschichte wurde in Cannes schon so ziemlich jedes Tabu gebrochen und alles, was thematisch polarisiert und schockiert, auf die Leinwand gebracht. Dennoch gab es auch dieses Jahr wieder jede Menge Zündstoff für die spitzen Zungen der zahlreichen Filmkritiker.
Der 2011 für den Action-Thriller „Drive“ als bester Regisseur ausgezeichnete Däne Nicolas Winding Refn sorgte dieses Jahr mit seinem Streifen „only god forgives“ für Furore. Dieses Mal aber im negativen Sinne. Hauptdarsteller, wie schon bei „Drive“, ist Hollywoodstar Ryan Gosling. Er sucht den Mörder seines Bruders in Thailand und die langsamen Bilder lassen Gosling wie in Trance erscheinen. Der Regisseur vergleicht seinen Ansatz mit der Idee des Schlafwandelns. Diese quälend schleichende Inszenierung und teilweise sehr brutale Sequenzen stießen beim Publikum in Cannes auf wenig Gegenliebe. Laute Buh-Rufe während der Weltpremiere waren die Folge.
Goldene Palme für La vie d’Adele
Die einzige deutsche Produktion „Tore tanzt“ ging im Nebenwettbewerb mit „un certain regard“ an den Start. Die Newcomerin Katrin Gebbe aus Hamburg schaffte es dank der ungewöhnlichen Thematik ihres Films nach Cannes: Tore ist Anhänger einer christlich-fundamentalistischen Gruppe und hält sich selbst für einen auserwählten Wunderjungen. Auf einem Parkplatz trifft er auf eine Familie, deren Auto er durch bloßes beten wieder in Gang zu bringen scheint. Tore schließt sich der Familien an und lebt fortan mit seinem Zelt in ihrem Garten. Doch schnell keimen Konflikte auf. Papa Benno terrorisiert seine Frau Astrid und seine beiden Kinder physisch und psychisch. An seiner 15-jährigen Stieftochter vergeht er sich sexuell. Tore versucht den dominanten Benno mit dem obersten Prinzip der Nächstenliebe zu brechen, doch wird er so selbst in eine Spirale der Verzweiflung und Gewalt gezogen. Die Reaktion auf das düstere Familienportrait in Cannes fiel äußerst negativ aus. Als „prätentiös“ und „unglaubwürdig“ betitelt ihn der Spiegel.
Eine weitere thematische Extravaganz leistete sich der französische Regisseur Abdellatif Kechiche. „La Vie d´Adele“ beschreibt das Leben eines 15-jährigen Mädchens, das seine Sexualität entdeckt. Anstatt sich zu ihrem Freund hingezogen zu fühlen, begehrt sie jedoch ein Mädchen mit blauen Haaren. Die realitätsnahe Inszenierung lässt die Liebesbeziehung der beiden Hauptdarstellerinnen Adèle Exarchopoulos und Léa Seydoux für den Zuschauer Wirklichkeit werden. Ausgedehnte Liebesszenen und nahe Kameraeinstellungen imitieren eine für das Kino bis dahin fast unbekannte Intimität. Juryleiter Steven Spielberg und seine Kollegen würdigten den Film mit dem Hauptpreis: Die goldenen Palme für den besten Film.
Amerikanische und französische Filme räumen ab
Der Grand Prix ging an die US-Amerikaner Ethan und Joel Coen für das Portrait eines New-Yorker Folk-Sängers in den 60ern, „Inside Llewyn Davis“. Die Beste Regie führte der Mexikaner Amat Escalante in seinem Film über das Elend und die Gewalt in Mexiko „Heli“. Die Missstände in seinem Heimatland prangerte auch der Chinese Jia Zhangke in „a touch of sin“ an und erhielt dafür den Preis für das beste Drehbuch. Zum Besten Darsteller wurde der US-Amerikaner Bruce Dern in „Nebraska“ und zur Besten Darstellerin die Französin Berenice Bejo in „Le passé“ gekürt. Den Preis der Jury erhielt der Japaner Hirokazu Kore-eda für sein Familiendrama „Soshite Chichi Ni Naru„(„Like Father, Like Son“).
Insgesamt befand sich Cannes dieses Jahr wieder fest in amerikanisch-französischer Hand. Die beiden großen Filmnationen stellten jeweils sechs Filme im Hauptwettbewerb des Festivals und räumten vier Preise ab. Das am dritthäufigsten repräsentierte Land war Japan mit zwei Filmen. Die restlichen Teilnehmer des Hauptwettbewerbs Dänemark, Iran, Chad, Holland, Mexiko, Italien und China stellten jeweils nur einen Film.
Französisches System als Vorbild
Das Geheimnis des auch diesjährigen französischen Erfolgs liegt im französischen System der Filmförderung begründet. In Frankreich wird der Film nicht wie in den meisten anderen Ländern durch den Staat und einzelne Regionen subventioniert. Die finanzielle Unterstützung der Filmbranche erfolgt hier hauptsächlich über verpflichtende Abgaben der Filmverwerter, das heißt Kinos, Fernsehsender oder Videoproduzenten. Hinzu kommen staatlich festgelegte Ausstrahlungsquoten für französische und europäische TV-Produktionen. Seit 1992 müssen 60 Prozent der in Frankreich gezeigten Filme aus europäischer Produktion und 40 Prozent davon aus der des eigenen Landes kommen, um eine höhere kulturelle Vielfalt zu ermöglichen. Das sicherte dem französischen Film im vergangenen Jahrzehnt einen massiven Gewinn an Marktanteilen. Das System in Frankreich sollte dem Rest Europas als Vorbild dienen, um die Dominanz des amerikanischen Films auf dem Weltmarkt zu brechen und den europäischen Film zu fördern.
So geht ein starkes Filmfestival mit vielen überzeugenden Produktionen aus aller Welt zu Ende. Bleibt zu hoffen, dass Frankreich die Flagge des europäischen Films im nächsten Jahr nicht schon wieder im Alleingang verteidigen muss.
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