Es schmeckt ihr nicht!

, von  Katrin Hartmann

Es schmeckt ihr nicht!

Es ist ein brennendes Thema in Europa – vielleicht sogar das kolossalste Thema, dass junge Europäer derzeit bewegt: Jugendarbeitslosigkeit und ausbeuterische Beschäftigungsverhältnisse. Francescas Geschichte steht symbolisch für eine ganze Generation.

Ich kann diese Käsestullen nicht mehr sehen! Immer nur Käse, Käse, Käse. „Alles Käse“, sagt Francesca, die mir am Küchentisch gegenüber sitzt. Aufgebracht erzählt sie mir von ihren Erlebnissen beim Praktikum. Ausbeutung nennt sie es.

Francesca ist 30 Jahre alt und kommt aus dem kleinen Ort Alassio an der italienischen Riviera. Ihre Eltern besitzen einen Laden. „Damit kommen sie gut über die Runden“, sagt sie. Die temperamentvolle Italienerin hat in Florenz Kommunikationswissenschaften studiert, inklusive Erasmus in Deutschland. Danach stand für sie fest: Sie will wieder kommen, in die Hauptstadt.

Berlin ist Deutschlands Schmelztiegel. Viele Künstler aus aller Welt, viele junge Leute, viele Studenten. Die Stadt ist günstig und kreativ. Gerade wegen diesem Potenzial und den (noch) günstigen Preisen siedeln sich hier viele Start-Ups an. Start-Ups, die junge arbeitswillige Europäer. wie Francesca, ausbeuten.

Francesca erzählt mir von ihrem Chef. Beim Vorstellungsgespräch für das sechsmonatige Praktikum in dem Start-Up-Unternehmen sei er überschwänglich optimistisch und nett gewesen, hat viel versprochen, sogar eine Festanstellung. Jetzt ist sie seit drei Monaten dabei und hat noch nie ein so desorganisiertes, chaotisches Unternehmen gesehen. „Noch nicht einmal in Italien“, lacht sie. Für das Praktikum bekommt Francesca 650 Euro pro Monat. Ein Lohn, der für ein Praktikum in Berlin enorm klingt, aber ohne eine finanzielle Unterstützung ihrer Eltern auch nicht zum Überleben reicht.

Flexibilität: Fluch und Segen unserer Generation

So wie Francesca geht es vielen jungen Europäern. Ausbeuterische Beschäftigungsverhältnisse machen sich besonders in der gesellschafts- und geisteswissenschaftlichen Branche sowie im Online-Bereich breit.

Europa erlebt derzeit wohl den größten gesellschaftlichen Umbruch seit Jahrzehnten – ein Umbruch zwischen Alt und Jung. Dieser Umbruch wird nur wenig wahrgenommen, weil die Jungen in der Unterzahl sind. Es ist kein Generationenkonflikt. Die meisten jungen Europäer verstehen sich gut mit ihren Eltern. Es ist vielmehr eine Perspektivlosigkeit und Suche, die von der älteren Generation nur schwer nachvollzogen werden kann.

Die hiesigen europäischen Beschäftigungsverhältnisse machen es für viele unmöglich, ein stabiles Umfeld aufzubauen. Flexibilität steht aus Sicht vieler Arbeitgeber ganz oben auf der Liste. Befristete Verträge, unsichere Projektfinanzierungen, ständiger Wechsel des Wohnsitzes – all das sind Bedingungen, die junge Europäer heute für einen Job erfüllen und in Kauf nehmen sollen. Familienplanung fällt da meist flach.

Eurostat-Statistiken beweisen, dass die Bevölkerung in Europa altert. Die Zahl der Geburten ist seit den 1960er Jahren stark gesunken und in den nächsten Dekaden wird die Bevölkerungsstruktur der EU weiter altern. Vergleicht man das Durchschnittsalter auf internationaler Ebene, liegen die meisten EU-28-Mitgliedstaaten unter den Top 30 der ältesten Staaten der Erde.

Während die ältere Mittelschicht mit den Auswirkungen der EU-Schuldenkrise relativ gut zurecht kommt, leiden die Jüngeren. Sie sind zahlenmäßig weniger vertreten und müssen die Krise mit schlecht bezahlten Jobs oder Arbeitslosigkeit ausbaden. Die Zahl der Jugendarbeitslosigkeit in der EU liegt derzeit bei etwa 23,5 Prozent. Am stärksten betroffen sind Länder wie Griechenland (62,5 Prozent), Spanien (56,4 Prozent) und Portugal (42,5 Prozent). Da kann sich Deutschland mit seinen 7,5 Prozent noch glücklich schätzen.

Francesca kam auch deshalb nach Deutschland. Für dieses Praktikum und in der Hoffnung auf einen gut bezahlten Job. Doch bereits der erste Tag kam ihr komisch vor. Man erklärte ihr nicht, was genau ihre Aufgaben waren. Mühsam musste sie sich mit einem anderen Praktikanten erarbeiten, was sie eigentlich zu tun hatten. Der Chef war weg. In den gesamten drei Monaten hat sie ihn nur vier oder fünf Mal zu Gesicht bekommen. Vor Arbeitsbeginn und in den Pausen musste sie sich stets in eine Liste eintragen. Die Zeiten wurden streng kontrolliert. Francescas Motivation sank bereits in den ersten Wochen. Jeden Tag das Gleiche, keine neuen Aufgaben, kein Feedback, der Chef meistens außer Haus. Die eintönige Arbeit und die geringe Kommunikation legte sich auf ihr Gemüt.

Prekäre Verhältnisse – auch in den „Wohlstandsländern“

Sicherlich ist die Situation der Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland nicht so schlimm wie in diversen südlichen EU-Ländern. Aber das Problem der prekären Arbeitsverhältnisse lässt sich auch in den europäischen „Wohlstandsländern“ herauskehren.

So standen in Brüssel Mitte Juli etwa 200 Aktivisten vor dem Europäischen Parlament und protestierten gegen die miserablen Arbeitsverhältnisse der Praktikanten im Brüsseler Arbeitsumfeld. Gegen den ständigen Verzehr von Sandwichs in der Mittagspause und für mehr faire Beschäftigungsverhältnisse demonstrierten zahlreiche Plakathalter auf dem Place du Luxembourg. Was auf den ersten Blick lustig und originell klingt, ist sicher auf den zweiten eine ernste Sache. Sogar in Brüssel sind die Arbeitsverhältnisse junger Europäer so, dass man sie unter den Begriff Ausbeutung zusammenfassen kann. Die sogenannte “Sandwich-Generation” ist arbeitswillig, muss aber viel Verantwortung für wenig Geld übernehmen und sich damit durchboxen.

Mit dem Protest stellten die Aktiven nicht nur die Forderung nach einem Mindestlohn, sondern auch nach allgemeinen Standards. Eine Charter „Towards quality internships and apprenticeships“ wurde entworfen. Diese soll vor allem jungen Europäern und Arbeitgebern zeigen, welche Arbeitsbedingungen für ein Praktikum angebracht sind. Die Präambel betont, dass der Übergang von Ausbildung zur Beschäftigung zunehmend schwieriger wird, viele junge Leute mit Arbeitslosigkeit und geringen Löhnen zu kämpfen haben. Sie fordert zudem alle Anbieter von Praktika und Lehrausbildungen auf, Qualitätskriterien einzuhalten sowie sich zu einem klaren und einheitlichen Verhaltenskodex zu verpflichten.

Zudem wurde das Projekt InternsGoPro ins Leben gerufen. Dort wird Praktikanten und Auszubildenden die Möglichkeit gegeben, ihre Arbeitsstätten zu bewerten und somit anderen jungen Europäern einen Einblick in die Arbeitsverhältnisse zu geben.

Wir brauchen Mut und Perspektiven

Francesca hat ihre Arbeitsverhältnisse schon eingetragen. Ihr Praktikumsvertrag wurde auf sechs Monate festgelegt. Ein unglücklicher Zufall hat sie nun aus dem Vertrag „befreit“, und zwingt sie sozusagen zur Rückkehr nach Alassio. Da ihr Vater krank ist, wird sie im Laden und zu Hause gebraucht. „In einer Krise wird einem erst bewusst, was wirklich wichtig ist“, sagt sie.

Dieser Satz hallt noch lange nach dem Gespräch in meinem Kopf und ich frage mich: Hat die Generation vor uns über ihre Verhältnisse gelebt? Oder sind wir es, die sich über einen neuen Standard klar werden müssen? Müssen wir nun alles anders machen? Die Fragen in meinem Kopf bleiben unbeantwortet. Aber es sind Fragen, die ich mir weiterhin stellen werde. Es sind Fragen der jungen europäischen Generation. Eines ist klar: Das Leben unserer Eltern werden wir nicht führen (können). Am Ende stehen Lebensentwürfe und Bedingungen unserer Generation zur Disposition. Europa muss uns wieder Mut und Perspektiven geben, auch wenn Änderungen folgen werden. Wohin wir uns bewegen wollen, liegt letztendlich in unseren Händen.

Zumindest muss Francesca jetzt erst einmal keine billigen Käsestullen mehr essen, sondern kann die frischen Artischocken aus dem Garten ihrer Eltern genießen.

Dieser Artikel erschien zuerst am 03. August im Move-Magazin.

Ihr Kommentar
  • Am 22. August 2013 um 14:49, von  Christoph Als Antwort Es schmeckt ihr nicht!

    Liebe Katrin,

    vielen Dank für den Artikel. Es ist sehr wichtig, den intergenerationellen Missstand wiederholt und klar zu benennen. Dein Artikel greift die Problematik gut auf. Es gibt allerdings eine Stelle, die ich wenig überzeugend finde. So schreibst du:

    „Europa erlebt derzeit wohl den größten gesellschaftlichen Umbruch seit Jahrzehnten – ein Umbruch zwischen Alt und Jung. Dieser Umbruch wird nur wenig wahrgenommen, weil die Jungen in der Unterzahl sind. Es ist kein Generationenkonflikt. Die meisten jungen Europäer verstehen sich gut mit ihren Eltern. Es ist vielmehr eine Perspektivlosigkeit und Suche, die von der älteren Generation nur schwer nachvollzogen werden kann.“

    Natürlich handelt es sich um einen Konflikt bestimmter Alterskohorten. Eine Volkswirtschaft generiert laufend eine gewisse Menge an Gütern und Dienstleistungen, die natürlich auch errungen und verteilt werden müssen. Ohne einen gewissen Interessen- und Verteilungskonflikt läuft das natürlich nie ab und in diesem Sinne besteht auch zwischen Elterngeneration und Nachkommen ein Konflikt.

    Hinzu kommt, dass der Konflikt, der innerhalb einer Familie durch familiäre Beziehungen überlagert wird, in der „Gesellschaft“, den „Sozialsystemen“ oder auf dem „Arbeitsmarkt“ viel klarer hervortritt. Nicht deine Eltern beuten dich innerhalb der Familie aus, sondern sie gehen zur Arbeit und beuten dort deine Altersgenossen aus - um es mal plastisch zu formulieren. Wenn du sagst, viele junge Menschen haben mit ihren Eltern gar kein Problem, dann blendest du eben diese makrosoziale Komponente aus; ja alle weiteren, mit der Sozialstruktur und den sozioökonomischen Dynamiken zusammenhängenden Faktoren werden gleich mit verdeckt.

    Eine Erklärung für die zunehmende materielle Ausgrenzung, prekäre Arbeitsverhältnisse, die an Ausbeutung grenzen, liegt für dich scheinbar darin, dass „die Perspektivlosigkeit und Suche“ der jungen Menschen von der Elterngeneration nicht nachvollzogen werden kann. Also davon ist es in meinen Augen aber noch ein ganz schön langer Weg bis zu ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen. Das erklärt einfach mal gar nichts.

    Wenn man sich zur prekären Situation junger Menschen in Europa äußerst, dann kommt man um sozioökonomische Fragen nicht umhin. Du erwähnst richtigerweise Kohorteneffekte. Die spielen fraglos eine wichtige Rolle. Richtig ist aber auch: die in den zurückliegenden Jahrzehnten zunehmend ungleiche Verteilug von Eigentum, Schuld und Macht wirkt sich auf junge Menschen negativ aus - und das gilt es stärker herauszuarbeiten.

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