Deutsche Ratspräsidentschaft 2007

Die deutsche Ratspräsidentschaft 2007: Wie weiter mit dem Verfassungsvertrag?

, von  Claudio Franzius

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Die deutsche Ratspräsidentschaft 2007: Wie weiter mit dem Verfassungsvertrag?

Spätestens seit Maastricht wissen wir, dass die Europäische Union nicht nur eine Rechtsgemeinschaft ist, sondern eine politische Gemeinschaft sein will. Das Geschöpf des Rechts, von dem einst Walter Hallstein sprach, hat sich emanzipiert. Es ist auf der Suche nach dem Politischen, von dem wir aber nicht wissen, wie es jenseits des Staates greifbare Gestalt annehmen soll. Dies übernimmt der Verfassungsbegriff, der Recht und Politik miteinander verkoppelt. Und es besteht kein Grund, dies allein der Verfassung von Staaten zuzutrauen.

Allerdings handelt man sich mit der Entkoppelung vom Staat eine Reihe von Problemen ein. Denn der Verfassungsbegriff transportiert das Vernunftideal des Verfassungsstaates in das 21. Jahrhundert. Emer de Vattel sah in der Verfassung den Plan der Nation im Streben nach Glück. Darin kommt der Gedanke der Selbstgesetzgebung eines zur politischen Einheit entschlossenen Kollektivs zum Ausdruck.

Wo ist dieses Kollektivsubjekt, das im radikalen Schnitt mit der Vergangenheit den Schritt in die Zukunft wagt? In Frankreich musste dafür der König hingerichtet werden. Und es spricht vieles dafür, dass die Franzosen mit ihrem Nein zum Verfassungsvertrag nicht weniger als das revolutionäre Erbe des Verfassungsbegriffs verteidigt haben.

Eine geschenkte Verfassung ist keine Verfassung. Insoweit stellt sich der amerikanische Pathos des we the people als schwere Bürde für den europäischen Verfassungsdiskurs dar. Der Verfassungsvertrag beginnt in der Präambel mit den Worten „Seine Majestät der König der Belgier“ und folgt der Logik des Völkervertragsrechts. Handelt es sich also doch nur um einen Vertrag, gegebenenfalls konstitutionalisiert?

Eine geschenkte Verfassung ist keine Verfassung.

In der nach den ablehnenden Referenden in Frankreich und den Niederlande ausgerufenen Phase der Reflexion ist oft darüber nachgedacht worden, ob die symbolische Kraft des Verfassungsbegriffs nicht unterschätzt worden ist. Wäre es also der Union unter der deutschen Ratspräsidentschaft zu empfehlen, bescheidener aufzutreten und auf die Verwendung des Verfassungsbegriffs für das Dokument zu verzichten?

Es steht viel auf dem Spiel und vielleicht gilt es, den konstitutionellen Bestand zu sichern, nicht aber mit Einheitsformeln zu überfrachten, die einen zentralen Schöpfungsakt suggerieren und schon auf der begrifflichen Ebene eine Ablehnung der Inhalte provozieren. Die Anrufung des revolutionären Geistes hat in der fragmentierten Weltgesellschaft ohnehin viel von seinem ehemaligen Charme verloren.

Und zu den Traditionsschichten des Verfassungsbegriffs gehört nicht nur die demokratische, auf die Politisierung des Rechts gerichtete, sondern ebenso die rechtsstaatliche Dimension, die evolutive Momente einer Verrechtlichung von Politik stärker betont. Es verwundert nicht, dass am Verfassungsbegriff für die Union gerade in Deutschland festgehalten wird, wo die Idee einer demokratischen Aneignung von Herrschaft erst mühsam erlernt werden musste.

Wie sieht der vertrackte Zusammenhang für die Union aus? Dass eine Verfassung aus Verträgen entstehen kann, ist der Verfassungstheorie nicht unbekannt, wird aber vielfach von der Voraussetzung einer gesellschaftlichen Selbstentledigung der vertraglichen Elemente abhängig gemacht.

Umgekehrt ist der unmittelbare Zugriff der Union auf die Bürger aber schon lange nicht mehr an eine Mediatisierung der Staaten gebunden. Diese haben ihre exklusive Rolle als verfassungsentwickelnde Gewalt verloren. Der Konvent hat für das Nebeneinander der Bürger und Staaten auch einen Namen gefunden: Die Bezeichnung als Verfassungsvertrag löst die Union aus der Gegenüberstellung von Staatenverbund oder Bundesstaat.

Es verwundert nicht, dass am Verfassungsbegriff für die Union gerade in Deutschland festgehalten wird, wo die Idee einer demokratischen Aneignung von Herrschaft erst mühsam erlernt werden musste.

Erst in dieser Distanz lässt sich die Union in der föderalen Grundstruktur verfassen. Sie liefert aber keine Imaginationsfolie für einen überschießenden Verfassungspatriotismus, der auf europäischer Ebene einfach nur nachholt, was im Nationalstaat entworfen wurde und mit seiner Einbindung in die Union zerbröselt. Kann die Union auch keine Liebe erzeugen, muss sie deshalb noch keine Kälte versprühen.

Vielmehr haben die multiplen Träger der verfassungsentwickelnden Gewalt, zu denen weder allein die staatlichen Regierungen noch die europäischen Gerichte, sondern vor allem die Unionsbürger gehören, eine Tugend des Dazwischen herzustellen, aus der sich die konstruktive Ästhetik des neuen Gemeinwesens ergibt.

Es ist hier nicht der Ort, über die Formen einer weichen Konstitutionalisierung zu räsonnieren. Nimmt man den Verfassungscharakter der Verträge ernst, wird man diese nicht einfach dem Volk vorenthalten können, das – in den Worten von Heinrich Heine als „großer Lümmel“ betrachtet – ein europaweites Referendum verbiete.

Weil es dieses Volk nur im Plural gibt, wird sich die europäische Demokratie aber nur über eine Vielzahl von Strängen konzipieren lassen. Ein polyzentrisches Gemeinwesen hat die Fragmentierung des Politischen auf Dauer auszuhalten und wird vielleicht gerade darüber geschützt, das europäische Modell dem Raunen der Nation auszusetzen. Und ein populistisches Aufbegehren wird so lange Sinn machen, wie es nicht gelingt, das europäische Regieren demokratischen Strukturen zu unterwerfen.

Deshalb ist es nicht nur plausibel, sondern ein normatives Gebot, den Grundsatz der Diskontinuität für die europäische Gesetzgebung einzuführen, wie es die Bundeskanzlerin in der jüngsten Regierungserklärung gefordert hat. Im Hintergrund mag die umstrittene Dienstleistungsrichtlinie stehen, die von der alten Kommission auf den Weg gebracht wurde, nun aber niemand mehr richtig haben will. Doch das Beispiel zeigt, wie sich Europa schrittweise entwickelt, dabei Öffentlichkeiten erzeugt und Strukturen zulegt, die es erlauben, am Verfassungsprozess festzuhalten. Kreativität und Leidenschaft bleiben gefragt. Zugleich aber auch ein langer Atem, auf der Basis des Rechts die politische Union zu verwirklichen.

Dieser Artikel wurde ursprüglich im treffunkt.europa (Zeitschrift der JEF Deutschland, Ausgabe 04/2006) herausgegeben.

Bild: Gemeinsame Sitzung des Bundeskabinetts und der Europäischen Kommission in Berlin - Pressebegegnung der Bundeskanzlerin und des Präsidenten der Europäischen Kommission

© by AA / Tim M. Hoesmann

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