« Die Staatsbürger wieder ins Herz des Aufbaus Europas zurückführen »

Ein Interview mit der der französischen Europaabgeordneten und ehemaligen Präsidentin des Europaparlaments Nicole Fontaine (68)

, von  Die Redaktion des Le Taurillon, Fanny Dubray, übersetzt von Sabine Marmulla

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« Die Staatsbürger wieder ins Herz des Aufbaus Europas zurückführen »
Nicole Fontaine

Nicole Fontaine ist seit fast 25 Jahren Europaabgeordnete und war eine der zwei Frauen, die bis jetzt die Funktion des Präsidenten im Straßburger Parlament ausübten. Nun, ein Jahr nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon, spricht sie mit offenherziger Begeisterung über die vom Vertrag eingeführten Entwicklungen und Herausforderungen, die Europa jetzt erwarten.

Le Taurillon: Frau Präsidentin, ihre politische Karriere hat sich zu großem Teil auf europäischer Ebene abgespielt. Wo sehen sie die Unterschiede zur Politik auf nationaler Ebene?

Nicole Fontaine: Die politische „Karriere“, um das Wort aufzugreifen, auch wenn ich es nicht mag, auf europäischem Niveau unterscheidet sich sehr vom der im Nationalstaat. Im Europaparlament verfolgen wir das Ziel, den Aufbau Europas weiter fortzuführen: da sieht man über politisch-ideologische Diskrepanzen hinweg, anders als es in nationalen Parlamenten oft der Fall ist. Außerdem stimmen wir über Texte ab, die nicht immer politische Inhalte haben: sie zielen oft auf die Harmonisierung unserer Legislativen ab, um das Inkrafttreten der vom Vertrag vorgesehenen Rechte (zB. der freie Verkehr von Personen, Handelswahren und Kapitalen) zu ermöglichen.

Ein anderer wichtiger Unterschied ist die Gegebenheit, dass das Europaparlament eine sehr schwierige Mehrheit aushandeln muss, da diese aus der Hälfte der Mitglieder plus einer Stimme hergestellt wird. Das heißt man muss 369 Stimmen unter 736 Abgeordneten versammeln. Nun kann keine politische Gruppierung, weder die europäische Volkspartei (die europäische Rechte; Anm. d. Red.) noch die Sozialisten (die europäischen Linke; Anm. d. Red.) eine solche Anzahl an Abgeordneten vereinen. So ist das Europaparlament dazu „verurteilt“ ideengebundene Mehrheiten zu formen, welche viele politische Ideologien vereinen.

Letztendlich finden sich in den Texten, über die wir abstimmen, oft Diskrepanzen, die eher nationaler als politischer Natur sind, weil mit gewissen Texten verschiedene Interessen der Länder zusammenhängen. So sieht man die sozialistischen, deutschen Abgeordneten Hand in Hand mit den Abgeordneten der CDU arbeiten, oder die Abgeordneten der britischen Arbeiterpartei verbünden sich mit ihren konservativen Parlamentariern, um ihre Interessen in den Texten zu wahren. Das führt dazu, dass die Wahrnehmung der Politik ganz anders ist ,als man sie auf nationaler Ebene vorfindet. So findet sich mit diesen Kollegen, die alle ein unterschiedliches Gespür für Politik haben, eine Vielfalt von Ideen. Das ist übrigens einer der Aspekte, die ich sehr positiv empfand.

Le Taurillon: Wir haben jetzt im Dezember gefeiert, dass der Lissabonner Vertrag seit einem Jahr in Kraft getreten ist. Eine wesentliche Neuheit dieses Textes ist das „Initiativrecht der Bürger“. Wie sehen Sie als früheres Mitglied des Ausschusses für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres im Europaparlament diese Neuheit? Wie setzt das Europaparlament das um?

Nicole Fontaine:: Der Vertrag von Lissabon hat diese Möglichkeit eingeräumt, aber ohne die Rahmenbedingungen festzulegen. Diese müssen noch durch einen legislativen Text in einer Regelung festgelegt werden. Das Parlament, selbst wenn es selbst kein Initiativrecht besitzt, hat sich gleich an die Arbeit gemacht und die Europäischen Kommission beauftragt, schleunigst einen Gesetzesentwurf vorzubereiten, der dieses neue Element des Vertrages umsetzt.

Über diesen Gesetzesentwurf wird am 16. Dezember abgestimmt. Der Entwurf enthält Regelungen, die z.B. vorschreiben, dass die initiierenden Bürger aus mindestens einem Drittel der Mitgliedstaaten stammen müssen, und andere Maßnahmen, die Betrug verhindern und den Willen der Bürger bestärken.

Le Taurillon: Welche sind die Risiken und welcher die Stärken einer solchen Maßnahme?

Nicole Fontaine: Wir werden bei der Anwendung sehen, was daraus wird. Was auch kommen möge, das Parlament ist positiv gestimmt. Ein Defizit in der Kommunikation mit den Bürgern hat man zum Zeitpunkt der Referenden gesehen und lässt sich dadurch erklären, dass die Bürger nicht genug in den Aufbauprozess Europas eingebunden wurden, sodass ein Graben entstanden ist zwischen den Entscheidern der Union und dem Volk.

Diese Maßnahme könnte die Gelegenheit sein, die Staatsbürger wieder ins Herz des Aufbau Europas zurück zu führen. Es ist übrigens interessant zu sehen, dass es sich bei der ersten Initiative um ein NGO Moratorium handelte. Man sieht natürlich, dass sie von stabilen Organisationen getragen wird (Greenpeace und Avaaz; Anm. d. Red.). Allemal ist es eine echte Chance, dank technischen Fortschritts und guter Organisation.

Le Taurillon: Ein anderes Element der Innovationen, die durch den Vertrag eingeführt wurden, ist die Schaffung eines Auswärtigen Diensts der Europäischen Union. Glauben sie, dass diese Einrichtung nachhaltig die Glaubwürdigkeit der EU auf internationaler Ebene stärken kann?

Nicole Fontaine: Das wird nicht so plötzlich geschehen. Ich werde aufrichtig sein und Ihnen sagen: es hätte mir besser gefallen, und da bin ich nicht die Einzige, eine starke Persönlichkeit auf dem Posten des Außenministers, oder vergleichbar hochrepräsentativen Posten (der gemeinsamen Außen- oder Sicherheitspolitik), zu haben. Aber nun ist dies die Situation. Dieser Auswärtige Dienst ist Hoffnungsträger und wird eine gemeinsame Kultur der europäischen Diplomatie schaffen.

Wenn man die Beamten des Quai d’Orsay mit den Beamten der anderen 27 Diplomatischen Dienste zusammentut, werden diese sich einen europäischen Geist aneignen, wie es schon im Parlament und in der Kommission der Fall war. Erinnert euch, wie Frau Thatcher zu ihrer Amtszeit in Großbritannien einen sehr anti-europäischen Politiker in die Kommission sandte, Lord Cockfield, welcher im Kontakt mit seinen Kollegen, Kommissaren und Abgeordneten, europäischer als die Europäer wurde. Frau Thatcher, die von dieser Ansteckung nicht sehr begeistert war, holte ihn schnell zurück.

Ich denke, dass solch „positive Ansteckung“ vom europäischen Geist auch im Auswärtigen Dienst stattfinden kann. Übrigens gibt die Nominierung des französischen Diplomaten Pierre Vimont an die Spitze dieses Dienstes Hoffnung auf schnelles voranschreiten, denn er ist eine echte Größe, sehr diskret und gleichermaßen intelligent.

Le Taurillon: Welche sind ihrer Meinung nach die großen Baustellen der europäischen Außenpolitik?

Nicole Fontaine: Die erste Baustelle wäre sich im Friedensprozess im Nahen Osten einzusetzen. Europa ist hoffnungslos abwesend, oder eher zeigt sich die Präsenz Europas im „Dasein einer Kasse“, deren einziger Auftrag die Finanzierung für den Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur ist.

Das ist sehr traurig, und ich glaube sagen zu können, dass die Protagonisten dieses Konfliktes sich Engagement aus Europa wünschen. Es ist eben nicht gesund, dass allein die Vereinigten Staaten die Gesetze in diesen Gebieten machen. Persönlich fand ich es sehr schade, dass Herr Obama nicht Frau Ashton eingeladen hat, als er vor einigen Wochen die Friedensverhandlungen neu gestartet hat.

Le Taurillon: Der Vertrag von Lissabon hat gleichermaßen institutionelle Erneuerungen gebracht. Unter anderem durch die Schaffung des Posten des Europaratspräsidenten. Wie hat sich das auf die institutionelle Ordnung Europas ausgewirkt?

Nicole Fontaine: Leider kann man heute noch keine positiven Nachrichten überbringen, da die Rolle des Ratspräsidenten in den Verträgen nicht klar definiert wurde. Zumal wir (mit Herrn Van Rampuy; Anm. d. Red.) eine wenig bekannte, eher leise Persönlichkeit haben, die vielleicht gute Arbeit leistet, aber nicht genug Bewegungsfreiheit hat. Wir erleben in der EU ein Aufwachen der Zwischenstaatlichkeit: wir finden weder bei Frau Merkel, noch bei Herrn Berlusconi diesen Gemeinschaftsgeist wie es ihn gab, als ich im Europaparlament war.

Keiner dieser Personen, die ich eben genannt habe, noch die, die die Mitgliedstaaten regieren, ist von Vorteil, dass Herr Van Rampuy die repräsentative Person Europas wird. Letztendlich konkurriert der Posten des Ratspräsidenten mit drei andern Stellen, die gleichermaßen die Union repräsentieren können: der Kommissionspräsident, Herr Barroso, der Präsidenten des Rats der Europäischen Union und die Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Frau Ashton. Auf die Frage, wer von ihnen die EU vertreten kann, haben die Autoren des Vertrages von Lissabon geantwortet, dass diese vier Persönlichkeiten klug genug sind um keine Probleme entstehen zu lassen: was die Frage natürlich nicht abschließend beantwortet.

Le Taurillon: Ihr Engagement für die EU hat nicht an den Pforten des Parlaments geendet: heute lehren sie an der Universität und helfen in schulischen Einrichtungen. Denken Sie, dass den Europaabgeordneten eine besondere Rolle in der Förderung der europäischen Staatsbürgerschaft zukommt?

Nicole Fontaine: Jeder hat hier eine Rolle zu spielen, nicht nur die Abgeordneten. Diese haben schon viel damit zu tun, den Verpflichtungen ihres Mandates nachzukommen, wie es uns der Titel eines von einer italienischen Abgeordneten verfassten Buches „La donna con la valigia“ („Die Frau mit dem Koffer“; Anm. d. Red.) zeigt. Sollte es wahr sein, dass europäische Staatsbürgerschaft nicht zu erkennen ist, so ist die Arbeit an den Schulen essentiell. Aber es wäre angebracht, sich dringend weiterhin mit Gründen des Desinteresses der europäischen Bürger zu beschäftigen: das ist meiner Meinung nach am Wichtigsten.

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