Was wollen diese Utopisten?
Kaum fünf Jahre vorher beherrschten Gewalt, Krieg, Verwüstung und Hass Europa. Und doch haben sich im Sommer 1950 circa 300 Europäer aus sieben verschiedene Länder versammelt. Sie sind Mitglieder der föderalistischen Bewegung [1] und fordern ein vereintes Europas nach dem Vorbild der USA. Sie wollen die festgelegten Grenzen zwischen Deutschland und Frankreich, zwischen zwei Nationalstaaten, überwinden. Sie wollen zusammen mit den Europäern jenseits dieser künstlichen Teilung ihre Zukunft gestalten. Sie betrachten die Menschen auf der „anderen Seite“ nicht als „Ausländer“, sprich als potentieller Feind, sondern als europäische Mitbürger. Und dies wollen sie symbolisch zeigen. Sie haben sich entschieden, Grenzübergänge zu demontieren.
Eine geheime Aktion
An einem Sonntag fallen die Schlagbäume. Am Vorabend hatten sich noch zwei Gruppen jeweils in Straßburg und Heidelberg getroffen, um die Planung zu vollenden. Dann, am 6. August, ist es soweit. Einige Journalisten sind dabei. Nur eine Person pro Gruppe weiß, wo genau die Aktion stattfinden wird [2]. Man muss sich die ungeheure Spannung vorstellen, als die Prozession abfährt. Mehrere Autos und Busse wurden gemietet. Regelmäßig halten sie, damit die Gruppenleiter den nächsten Schritt erklären können. Unsere Aktivisten haben die europäische und föderalistische Fahnen dabei und die Aufregung wächst im Laufe des Vormittages, als sich die zwei Gruppen der Grenze nähern. Auf französischer Seite ist Weiler die Endstation, einige Kilometer weiter entfernt, in Deutschland, halten alle in Niederschlettenbach. Den Aktivisten ist nun klar: Der Grenzübergang in Sankt Germanshof ist das Ziel.
Ein symbolischer Akt...
Auf beiden Seiten der Grenze, die von drei Zollbeamten geschützt wird, stehen sich Menschen aus sieben Länder gegenüber. Sie können sich noch nicht sehen, wissen jedoch, dass sie nicht allein sind. Junge Menschen werden sich in einige Minuten gegenüber stehen, deren Väter und Brüder noch aufeinander geschossen hatten.
An diesem Sonntag jedoch, sind sie nicht zur Grenze gekommen, um sich umzubringen. Sondern um sie gemeinsam abschaffen – wenn auch nur symbolisch.
Mit einem Trick werden die französischen Beamten abgelenkt: Eine der Aktivistinnen simuliert einen Schwächeanfall [3]. Dann geht es los: Hammer und Sägen werden aus den Autos genommen und der Schlagbaum „angegriffen“. Die Beamten reagieren nicht mehr. Unsere Aktivisten haben den Grenzübergang auf beiden Seiten friedlich übernommen und machen, was damals absolut unmöglich scheint: Sie laufen von Frankreich nach Deutschland und umgekehrt, ohne ein Visum zu beantragen, ohne irgend ein Dokument zeigen zu müssen. Noch versucht unsere deutsche Gruppe, den Schlagbaum zu überwinden – er aus Metall und nicht wie sein französischer Pendant auf Holz . Plötzlich kommt die französische Gruppe an. Unsere Aktivisten haben sich endlich getroffen und packen jetzt gemeinsam an. Der deutsche Schlagbaum leistet noch Widerstand, kapituliert aber nach einigen Minuten. Er wird mit den Grenzschildern als Trophäe getragen und angezündet. Dann wird getanzt und diese symbolische Befreiung gefeiert. Selbstverständlich ist das ganze absolut friedlich gelaufen. Die Journalisten berichten über die Aktion und die jungen Föderalisten erhalten ihre verdienten Schlagzeile in den Zeitungen, auf beiden Seiten des Rheins.
… der noch heute bedeutend ist
Mit dieser Aktion wollten unsere Vorgänger-innen die Öffentlichkeit darüber aufmerksam machen, dass die Grenzen in Europa nicht nur unnütz, sondern auch unnötig sind. Heute haben wir diese künstliche Teilung zumindest in Sankt Germanshof überwunden. In der aktuellen Debatte um eine Verschärfung des Schengen Abkommens, müssen wir als Europäer klarmachen:
Wir wollen keine Wiedereinführung der Grenzen!
Sei es „vorläufig“ oder „eine Ausnahme“ oder eine sonstige Ausrede. Diese Grenzen müssen weg, und das für immer bleiben! Die Taten unserer Vordenker von 1950 dürfen nicht umsonst gewesen sein.
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