Der Fall Ungarn und Europas Schweigen

Symbol einer fehlenden europäischen Zivilgesellschaft?

, von  Aurélien Brouillet, übersetzt von Inga Wachsmann

Alle Fassungen dieses Artikels: [Deutsch] [français]

Der Fall Ungarn und Europas Schweigen
Die Nationalisten marschieren auf und keiner sieht hin. Photo: Bestimmte Rechte vorbehalten von Leigh Phillips

Am 1. Januar 2012 ist die neue ungarische Verfassung in Kraft getreten. Das Dokument tritt die von der Europäischen Union getragenen demokratischen Werte schamlos mit Füßen. Ob Medienfreiheit oder das Recht auf politische Opposition, diese neue Verfassung erinnert besorgniserregend an die schrecklichsten Stunden der europäischen Geschichte.

Kaum Interesse für die Entwicklung in Ungarn

Die EU hat Ungarn nun, logischwerweise, mit Sanktionen gedroht. Doch anders als man nach Lektüre der wenigen Zeitungen, die darüber berichten, denken könnte, ist das Problem nicht von gestern. Der Prozess der Verfassungsreform hat am 18. April 2011 mit der Verabschiedung des Textes durch die ungarische Nationalversammlung seinen Abschluss gefunden. Aber wer hat in Frankreich von dem radikal-nationalistischen Schub in Ungarn gehört?

Der Informationsmangel steht vor allem für fehlendes Interesse. Die Medien berichten nur über das, was sich verkaufen lässt. Alles andere interessiert sie nicht. Das Beispiel der ungarischen Verfassung veranschaulicht bestens das Desinteresse der Bürger. Es handelt sich nicht nur um einen Mitgliedstaat, der sich gegen die Union stellt, sondern um den Verstoß gegen Werte, die auf dem alten Kontinent seit Ende des zweiten Weltkriegs verteidigt wurden. Selbst ein solch gravierender Verstoß hat kein Aufhebens erregt.

Warum Ungarn uns etwas angeht

Dabei ist Ungarn ein Mitgliedstaat der EU und des Schengenraums. Es gehört zum gleichen Raum wie Frankreich. Aufkommender Nationalismus innerhalb unserer gemeinsamen Grenzen sollte Grund für Besorgnis und zum Nachdenken sein. In einem Land [Frankreich], in dem die größte nationalistische Partei in die Nähe einer Wahlprognose [für die anstehenden Präsidentschaftswahlen im April/Mai 2012] von 20 Prozent kommt, steht einiges auf dem Spiel.

Ein wirklich europäischer Protest, der das Entgleisen eines Mitgliedstaates anprangert, würde die Europäischen Institutionen außerdem sicher in Zukunft zu schnellerem reagieren zwingen – die EU brauchte mehr als einen Monat, um, zudem ausschließlich wirtschaftliche, Maßnahmen zu ergreifen. Die Franzosen sind nicht machtlos sondern direkt betroffen!

Wo ist das Zugehörigkeitsgefühl?

Wir haben es hier mit einem drastischen fehlenden europäischen Zugehörigkeitsgefühl der französischen Bevölkerung zu tun. Ungarn wird als weit entferntes Land wahrgenommen ohne jegliche Verbindung zu Frankreich. Die Mehrheit der Bürger, die über den Fall Ungarn informeirt sind, verurteilt zwar das Verhalten Ungarns, empfindet jedoch bestenfalls Mitleid, schlechtenfalls zitiert man die autoritäre Vergangenheit der Oststaaten. Ein Armutszeugnis, dass die französische Bevölkerung sich in einer Zeit, in der die europäischen Eliten den Föderalismus mehr denn je verteidigen, immer noch nicht das Gefühl hat, vor allem europäisch zu sein.

Dies ist jedoch kein Grund in Pessimismus zu verfallen und den europäischen Föderalismus als Utopie abzustempeln. Ein europäisches Bewusstsein der Bürger existiert und muss lediglich stärker ausgeprägt werden. Diskutiert man mit Studenten oder Bürgern stellt man schnell fest, dass die Leute sich für Europa interessieren, wenn sie einmal sensibilisiert sind. Möchte man erreichen, dass die Bürger sich betroffen fühlen, muss man sie teilhaben lassen. Soll dies über eine Debatte über die Europäischen Institutionen geschehen, muss außerdem eine europäische Zivilgesellschaft aufgebaut werden. Dazu sind den traditionellen Medien zwei Dinge vorzuwerfen.

Europapolitik ist Innenpolitik

Erstens geben sie schlicht und einfach keine Informationen weiter. Das in Kraft treten der ungarischen Verfassung wurde beispielsweise am Rande erwähnt, eine neue Umfrage über die Zuwächse des FN [Front National, rechts-nationalistische Partei Frankreichs geführt von Marine Le Pen] kam in die Schlagzeilen. Zweitens werden europäische Informationen in einer Weise behandelt, die der Wahrnehmung gemeinsamer Herausforderung nicht förderlich ist. Die EU wird als ferne Institution beschrieben und Informationen über Mitgliedstaaten vermischen sich zu häufig mit den internationalen Nachrichten. Die Journalisten sollten nicht nur Informationen weitergeben, das ist selbstverständlich, sondern die europäischen Nachrichten als das behandeln was sie sind, interne Nachrichten die die Franzosen direkt betreffen.

Die Kritik darf sich jedoch nicht ausschließlich an Journalisten wenden. Europa wird von der Politik aller Lager durchgängig als Instrument dargestellt. Europa im Sinne Frankreichs und entsprechend der Haltung de Gaulles benutzen. Europäische Herausforderungen werden nie wirklich als solche wahrgenommen. Alles wird systematisch auf Frankreich bezogen. Die Wirtschaftskrise z.B. kann ausschließlich auf europäischer Ebene gelöst werden und nicht durch französische Ansätze wie es die vielen Wahlprogramme für die anstehenden Wahlen vorschlagen.

Einige Fortschritte sind zu verzeichnen: es wurden viele Programme geschaffen die dazu dienen sollen, den Bürgern ein europäisches Bewusstsein zu verschaffen. Im Bereich der Bildung zum Beispiel mit dem Programm Europa à l’école (Europa in der Schule), dem gemeinsamen deutsch-französischen Geschichtsbuch oder Informationsangebot im Internet wie dem Taurillon [Treffpunkt Europa Online]. Das Engagement muss gebündelt und verstärkt werden, damit kommende Generationen Informationen über die EU einfordern und sich für alle Mitgliedstaaten einsetzen und damit auch für Ungarn.

Demonstrationshinweis

Die JEF sieht Europas Werte in Gefahr. Deshalb wollen wir dem Botschafter Ungarns am 24. März ein gemeinsames Memorandum der Europa-Union Deutschland, der Jungen Europäischen Föderalisten und von Mehr Demokratie überreichen. Wir appellieren an Ungarn, Mitglied der europäischen Wertegemeinschaft zu bleiben! Die Demonstration beginnt am 24. März um 11.00 Uhr in Berlin, in den Ministergärten 6, und führt zur Botschaft Ungarns, Unter den Linden 76. Mehr zur Demonstration.
Ihr Kommentar
Vorgeschaltete Moderation

Achtung, Ihre Nachricht wird erst nach vorheriger Prüfung freigegeben.

Wer sind Sie?

Um Ihren Avatar hier anzeigen zu lassen, registrieren Sie sich erst hier gravatar.com (kostenlos und einfach). Vergessen Sie nicht, hier Ihre E-Mail-Adresse einzutragen.

Hinterlassen Sie Ihren Kommentar hier.

Dieses Feld akzeptiert SPIP-Abkürzungen {{gras}} {italique} -*liste [texte->url] <quote> <code> et le code HTML <q> <del> <ins>. Absätze anlegen mit Leerzeilen.

Kommentare verfolgen: RSS 2.0 | Atom