Gespräch mit Jacques Ziller

Das Auge des Juristen auf die Europäische Verfassung

, von  Übersetzt von par Till Burckhardt, Lorenzo Pessotto, Marta Semplici, Stefano Rossi

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Das Auge des Juristen auf die Europäische Verfassung

Jacques Ziller ist Professor für Europarecht am Europäischen Universitätsinstitut in Florenz und an der Universität Paris-I-Panthéon-Sorbonne. Zwischen 2000 und 2003 hat er als Fachexperte der Delegation des Ausschusses der Regionen die Arbeit des Europäischen Konvents verfolgt. Am 19. Januar 2007 hat er für die Jura-Doktoranden der Universität Turin ein Seminar über das Thema „Die Zukunft der Europäischen Verfassung“ gehalten. Vorher, jedoch, ist es uns gelungen, mit ihm zu sprechen.

Professor Ziller, ist es korrekt zu behaupten, dass das französische Referendum gegen die Europäische Verfassung ähnliche Folgen wie die Ablehnung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) im Jahre 1954 haben wird?

Man kann die Zukunft nicht vorhersagen, aber es ist möglich, die Ähnlichkeiten und die Unterschiede zu untersuchen. Die erste Ähnlichkeit ist, dass die Ablehnung aus einem der Länder kommt, das stets die europäische Integration vorangetrieben hat. Der zweite gemeinsame Punkt ist, dass Frankreich ein sehr besonderes Land bleibt da es, im Unterschied zu Italien, Deutschland und Spanien, nie eine allgemeine Zustimmung der wichtigsten politischen Parteien zu Europa gegeben hat. Es gibt nicht diesen Konsens, den man zum Beispiel, von der extremen Linke und der Lega Nord abgesehen, in Italien findet.

…wahrscheinlich, dass die wichtigsten Erneuerungen des heutigen Verfassungsvertrags übernommen werden, und in einen anderen Text einbezogen werden.

Ein großer Unterschied ist, dass die EVG ein französischer und italienischer Vorschlag war, und zum Zeitpunkt der Ablehnung bestand Europa aus sechs Ländern. Fünfzig Jahre danach müssen wir mit 27 Mitgliedsstaaten und mit der Vielfalt der vertretenen Auffassungen rechnen. Darüber hinaus wurde 1954 ein sehr innovatives Projekt verworfen, aber seine Ablehnung verhinderte nicht, mit den Römischen Verträgen (1957) voranzuschreiten. 2005 standen wir vor einem Konsolidierungswerk dessen, was schon bestand, was viele der französischen Politiker und Wähler nicht verstanden hatten: In diesem Sinne könnte es sein, dass diese Ablehnung schlimmer ist als die von 1954. Außerdem blockierte damals einzig das französische Parlament das Projekt. 2005 sah die Situation anders aus: Die Ablehnung durch die französische Bevölkerung erfolgte zwei Tage nach der niederländischen, und es ist heute noch nicht geklärt, inwiefern das niederländische Votum beeinflusst wurde. Meines Erachtens nach wenig. Auch wenn Frankreich und die Niederlande „ja“ gestimmt hätten, hätte es das Problem Großbritannien gegeben. Dies bedeutet, dass wir nicht in derselben Lage sind.

Welche sind die wichtigsten Vorschläge für die Zukunft der Verfassung, und welcher ist Ihrer Meinung nach der interessanteste?

Die Möglichkeiten, über die man diskutiert, sind drei: Die erste schlägt vor, die Ratifikationen des jetzigen Textes fortzusetzen. Nächste Woche findet ein Treffen zwischen den Ländern, die schon ratifiziert haben, statt, in dem man entscheiden könnte die Ratifikationen weiterzuführen, in der Hoffnung, dass dies Frankreich und Großbritannien dazu bewegt, eine andere Linie zu verfolgen. Dieser Weg, vor einem Jahr noch konkret, scheint heutzutage unpraktizierbar. Die zweite Möglichkeit besteht darin, nichts zu tun: Das ist die These jener, die über politische Reformen, über das „Europa der Ergebnisse“ reden, aber ihre Vertreter werden weniger. Barroso, zum Beispiel behauptete vor einem Jahr, dass die Europäische Verfassung tot sei, während er heute meint, dass eine Verfassung nötig wäre. Der Unterschied ist klein, aber erklärt den Kurswechsel gut. Nun sind, bis auf die Briten, viele überzeugt, dass ohne eine Reform der Institutionen beträchtliche politische Ergebnisse, wie zum Beispiel im Bereich der Einwanderung und Außenpolitik, unmöglich sind. Diese zwei Wege scheinen also nicht die richtigen zu sein. Der dritte Weg besteht in der Ausarbeitung eines neuen Texts: Einige Leute glauben, dass es möglich ist, den Prozess neu zu starten und einen völlig verschiedenen Text zu erarbeiten. Diese Arbeit wäre technisch sehr lang und politisch unwahrscheinlich, insbesondere gegenüber den Ländern, die schon ratifiziert haben oder im Begriff sind dies zu tun. Das Wahrscheinlichste ist, dass die wichtigsten Neuerungen des jetzigen Verfassungsvertrags übernommen und in einem neuen Text eingegliedert werden, indem man die Form, aber nicht die Substanz ändert.

Carta dei Diritti Fondamentali...è importante mantenerla

Wie würde man die Grundrechte-Charta in eine eventuelle Änderung des Verfassungstextes eingliedern?

Technisch ist alles möglich. Ein Fachbeauftragter könnte behaupten, dass es keine Not gibt, die Grundrechte-Charta einzubeziehen, da sie auch nicht bindend, schon wirkungsfähig ist. Nichtsdestoweniger ist es wichtig, sie zu bewahren. Wie aber? Man könnte an einen neuen Text denken, der sie, so wie sie ist, aufnimmt. Die andere Lösung schlägt einen Vertrag außerhalb der Verfassung vor, der eine Klausel beinhaltet, welche die Rechtecharta mit einer bindenden Wirkung auszustattet. Technisch wäre es dasselbe, aber bezüglich der Sichtbarkeit ist der Unterschied beträchtlich: Man könnte behaupten, dass es besser wäre, sie im Verfassungstext einzuschließen, so dass ihre Wirksamkeit anerkannt wird. Aber man kann nicht leugnen, dass die Nutzung in einem separaten Text im täglichen Gebrauch einfacherer wäre. Zwischen den Texten von 2000 und 2004 gibt es einige Unterschiede sowohl in der Abfassung, nach der „Säuberung“ einiger Textstellen wegen Übersetzungsschwierigkeiten, als auch im Inhalt, auf Grund einiger Änderungen in den letzten Artikeln, um sie für Großbritannien akzeptabler zu machen.

Der erste Schritt ist, sie nicht mehr ‚Verfassung’ zu nennen

Herr Professor, wäre es Ihrer Meinung nach möglich eine Lösung zu finden, um eine Verfassung zu haben, die alle Länder ratifizieren könnten?

Der erste Schritt ist, sie nicht mehr „Verfassung“ zu nennen. Sonst wird es politisch unmöglich sein, sie ratifizieren zu lassen: In Großbritannien werden sie es nicht wollen, und in Frankreich und Holland werden sie sagen, dass das man „den alten Wein in neue Flaschen gießt.“ Ein Text der nicht von den 27 angenommen wird, hätte überhaupt keinen Wert, es wäre Abfallpapier. Falls ein geografisch und demografisch kleines Land nicht ratifizieren möchte, würde es nach einem „ja“ der anderen Länder die Ratifizierung vorteilhaft finden. Aber dies ist nicht der Fall. Ein Vertrag der nicht Verfassung heißt, und der versucht, die Fragen, die sich heute Europa stellt, zu beantworten, muss von allen 27 angenommen werden: Das Problem ist, wie dies zu schaffen ist.

Bezüglich der Inhaltsfrage, wird es desto schwieriger sein einen Konsens zu finden, je mehr man sich vom jetzigen Text entfernt, da über den vorigen Text schon eine Zustimmung der Bevölkerung gab: Man könnte es höchstens anders strukturieren. In Frankreich gefiel die Idee nicht, den Inhalt der Römischen Verträge in einen Verfassungsvertrag einzuschließen, und man hat den Mangel an Aufmerksamkeit für das Soziale bedauert. Deswegen ist es nötig, etwas zu finden, bei dem die Erneuerungen erhalten bleiben – den Rest haben wir in jedem Fall – und der konsensfähig ist. Alles in allem ist dieser Punkt leicht lösbar.

Meine Meinung ist, dass Blair von der City Druck bekommen hat...

Das wirkliche Problem betrifft das Verfahren. Es gibt ein einziges Land in dem eine Volksabstimmung verpflichtend ist: Irland. Wenn es das einzige Land ist, in dem der Vertrag einem Referendum unterstellt ist, wäre es einfach, die Wählerinnen und Wähler zu überzeugen. Dies ist nicht das größte Problem. Das wirkliche Problem besteht darin, dass viele Europäische Regierungschefs dies versprochen haben. In Frankreich hat man sich für eine Volksabstimmung entschieden, weil Blair dies zwei Monate zuvor angekündigt hatte. Meine Meinung ist, dass Blair von der City Druck bekommen hat, vor allem von Murdoch, der wegen der Grundrechte-Charta gegen die Verfassung war. Es wäre falsch zu behaupten, dass die City gegen die Integration ist, aber es gibt die Furcht, dass die Charta einigen Unternehmen Probleme verursachen würde. Ein besonderes Problem stellt sich in Frankreich und Holland, wo das Referendum schon abgehalten wurde. In Frankreich will Nicolas Sarkozy einen Text, der ohne Volksabstimmung auskommen könnte, während Ségolène Royal neulich angekündigt hat, dass sie zusammen mit den nächsten Europawahlen ein Referendum abhalten will. Alles hängt von den nächsten Präsidentschaftswahlen in Frankreich ab und davon, was in Großbritannien geschehen wird, wenn Gordon Brown, der sich bis jetzt nicht äußert, Blair nachfolgen wird. Es ist nicht leicht, den Knoten zu lösen. Die Aufgabe der deutschen Ratspräsidentschaft ist es voranzukommen, indem man ein Abkommen über einen Text findet, der neu genug ist, um akzeptiert zu werden, und alt genug ist, um die frühere politische Zustimmung zu erzielen.

Abbildung:

Flickr

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