Arbeitsmigration in der EU – eine Kritik

Von einer höheren Arbeitsmarkmobilität würden nicht alle profitieren!

, von  Christoph Sebald

Arbeitsmigration in der EU – eine Kritik
Arbeitsmigranten in Spanien Photo: Bestimmte Rechte vorbehalten von Dr John2005

Die von Vincent Venus geäußerte Ansicht, wonach Arbeitsmigration in der EU gewissermaßen ein Instrument zur (nahezu) perfekten Allokation von Arbeitskräften ist, lässt einige Einwände unbeachtet. Zum einen werden soziale und geostrukturelle Aspekte ausgeblendet, zum anderen die Notwendigkeit der Arbeitsmigration mit überzogenen Argumenten gestützt.

Arbeitslosigkeit und Brain Circulation

Gewöhnlich heißt es, die Arbeitsmigration kompensiere zumindest einen Teil der Arbeitsmarktungleichgewichte in der EU, welche sich insbesondere nach der Finanzkrise im Jahr 2007 verschärft haben. Dies ist insofern richtig, als eine Abwanderung von Arbeitsmigranten in den südlichen Peripheriestaaten, etwa in Spanien, kurzfristig die Arbeitslosigkeit weniger stark hat ansteigen lassen. Langfristig hat Arbeitsmigration jedoch keinen signifikanten Einfluss auf die Arbeitslosenquoten sowohl in Ziel-, als auch in Herkunftsländern. Dies liegt daran, dass sich der Kapitalstock dem Arbeitsangebot anpasst.

Die Brain Circulation (Fachkräfte arbeiten und lernen im Ausland und kommen später wieder zurück) funktioniert aus diversen Gründen nicht ganz so, wie sie soll. So leben beispielsweise viele der Arbeitsmigranten aus den mittelosteuropäischen Mitgliedstaaten, die in der Boomphase nach Spanien emigriert sind, noch heute da. Die Gründe für diesen Effekt sind vielfältig. Viele Migranten gewöhnen sich schlicht an das neue Land. Mit zunehmender Aufenthaltsdauer steigen aber auch die Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Eine anhaltende Zuwanderung ist auch darauf zurückzuführen, dass die Situation, selbst nach einem Abschwung in den Zielländern, in den Herkunftsländern schlicht noch schlechter ist. Auch verfügen die Zielländer nicht selten über ausgeprägtere soziale Sicherungssysteme, insbesondere in Kontinentaleuropa.

Daraus folgt: Menschen sind keine Allokationseinheiten, welche man je nach Bedarf von A nach B schieben kann. Noch heute besteht in allen peripheren Zuwanderungsländern (etwa Spanien, Portugal, Italien), ein Wanderungsüberschuss, der nicht zuletzt auf den relativ höheren Wohlstand dieser Länder gegenüber den neuen Mitgliedstaaten in Mittelosteuropa zurückzuführen ist. Brain Circulation ist nicht nur begrenzt vorhanden. Unter den gegenwärtigen Bedingungen ist es auch nur begrenzt zu erwarten, da sich die Wohlstandskluft zwischen den Mitgliedstaaten nicht oder nicht schnell genug schließt. Arbeitsmigration hängt eben nicht nur mit einem Arbeitsplatz zusammen.

Strukturelle Ungleichgewichte

Der Grund für Arbeitsmigration in der EU sind strukturelle Ungleichgewichte, also das unterschiedliche Potenzial der Mitgliedstaaten, Arbeitsplätze zu schaffen. Dabei verkennt man, dass Arbeitsmigration das Problem noch verschärfen kann. Die Arbeitsmigration aus strukturschwachen Mitgliedstaaten in den nächsten Jahren wird voraussichtlich zunehmen. So soll etwa die Arbeitsmigration aus Bulgarien und Rumänien von derzeit 1,9 Millionen Menschen, auf 3,9 Millionen Menschen im Jahr 2020 ansteigen.

Die regionale Konzentration der Zuwanderer aus den neuen Mitgliedstaaten ist andererseits sehr hoch, insbesondere in den Großräumen London und Wien. Daraus folgt, dass Arbeitsmigration innerhalb der EU Zentralisierungs- und Peripherisierungsprozesse tendenziell verstärkt. Dies leuchtet gerade dann ein, wenn man sich vor Augen hält, dass insbesondere junge, gut ausgebildete Menschen in EU Ballungszentren ziehen. Dadurch kann die Ansiedlung von Hightechindustrie und höherer Dienstleistungen in Peripherieländern (etwa in Mittelosteuropa) zunehmend unattraktiv werden. Das gerade dann, wenn hochqualifizierte junge Menschen dauerhaft abgewandert sind.

Es besteht die Gefahr, dass die betroffenen Länder ausländische Investoren nur noch durch Niedriglöhne und Steuervergünstigungen locken können. Weiterhin kann sich herausstellen, dass sich das (industrielle) Innovationspotenzial, gerade aufgrund seines immensen Investitionsbedarfs, langfristig im EU-Kern festsetzt. Dass die Innovationskraft eine wesentliche Quelle des Wohlstands ist, braucht man in Deutschland wohl nicht extra zu erwähnen. Es liegt auf der Hand, dass die struktur- und sozialpolitischen Konsequenzen hierbei gravierend sein können. Die Ungleichgewichte zwischen Ballungszentren und Peripherie sowie zwischen Kern- und Peripheriestaaten würden sich in diesem Fall weiter verschärfen. Zunehmende Arbeitsmigration birgt also auch Risiken.

Demographisch bedingter Arbeitnehmerbedarf?

Das ständige Lamentieren, in den Kernstaaten der EU fehlten qualifizierte Arbeitskräfte, ist oftmals überzogen. Die Aussage, allein im Januar seien 80.000 Ingenieursstellen unbesetzt geblieben, ist äußerst problematisch. Es handelt sich um einen groben Schätzwert. Zum anderen gibt es bereits heute deutlich mehr Absolventen der Ingenieurwissenschaften, als Ingenieure, die in den Ruhestand gehen, was in dieser Zahl nicht berücksichtigt wird.

Es ist nicht ungewöhnlich, dass sich im Arbeitsmarkt Mangel und Überangebot, an Arbeitnehmern einer gewissen Berufsrichtung, die Klinke in die Hand geben. Steigt die Nachfrage nach Ingenieuren, steigt in der Regel auch die Anzahl der Absolventen der Ingenieurswissenschaften, was wiederum zu sinkender Nachfrage oder gar Übersättigung führen kann. So geschehen im EDV-Bereich in den 80ern und während der Dotcom-Blase. Das Argument, die Demographie erfordere zwangsläufig Zuwanderung, lässt sich mit einem Verweis auf zunehmende Produktivität und die Kapazitäten durch Erhöhung der Erwerbsquote kontern.

Die europäische Lösung?

Arbeitsmigration zur europäischen Lösung zu erklären, läuft in die falsche Richtung. Zum einen wird dabei übersehen, dass es sich oft um erzwungene Arbeitsmigration handelt. Außerdem, dass die EU-weiten Ungleichgewichte zwischen den Mitgliedstaaten sich zu verfestigen drohen. Zugespitzt kann man sagen: Arbeitsmigration verstärkt Akkumulationsprozesse in Ballungsräumen und ihre sozialen sowie strukturellen Folgen werden weitgehend ignoriert. Das Ergebnis können nicht nur gerissene soziale Bande, sondern auch zunehmende strukturelle Ungleichgewichte sein, welche durch die Kohäsionspolitik nur noch unzureichend abgefedert werden können. Win-win Situationen und europäische Solidarität sehen in meinen Augen anders aus.

Eine Lösung für die EU kommt ohne eine koordinierte Wirtschafts- und Sozialpolitik nur schwer aus. Arbeitsmobilität mag bestimmte, kurzfristige Erscheinungen abfedern, doch muss man sich ihrer Nebenwirkungen stets bewusst sein. Langfristig wird man um eine verstärkte Struktur- und Investitionspolitik nicht umhin kommen, will man den Prozessen von Zentralisierung und Peripherisierung wirksam Paroli bieten. Dies berücksichtigt die sozialen Bedürfnisse der Menschen und wahrt die föderal-dezentrale Struktur der EU. Ich finde, das wäre eine weitaus europäischere Alternative.

Vincent Venus ist anderer Ansicht. Er meint, eine hohe Arbeitsmobilität ist eine win-win-win-win Situation.

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