Was uns das Beispiel Polen zeigt

, von  Arthur Molt

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Was uns das Beispiel Polen zeigt
Ein Fahnenmeer vor dem polnischen Parlament bei einem Protest gegen die Reform des Verfassungsgerichts im Dezember 2015. Den Patriotismus beanspruchen sowohl Befürworter als auch Gegner der aktuellen Regierung für sich. Adrian Grycuk / wiki / CC BY-SA 3.0 PL

Nach tagelangen Protesten scheint der Angriff auf die Gerichte vorerst abgewendet. Doch Kaczynskis Regierungspartei bleibt trotz wachsender Kritik die stärkste politische Kraft in Polen. Sie hat sich eine Wählerschaft erzogen, die Demokratie als Diktatur der Mehrheit versteht. Wünsche nach einer Exekutive, die durchregiert statt einem Kräftespiel der Institutionen gibt es nicht nur in Polen. Das liberal-demokratische Modell verliert, sobald der Schutz von Gewaltenteilung und die Garantie von Bürgerrechten als Projekt einer abgehobenen Elite verstanden wird.

Zuhause vor dem Fernseher bleiben oder auf die Straße gehen? Diese Frage stellten sich in den letzten Tagen viele Menschen in Polen. Drei Gesetzesvorhaben hatte die Regierung in wenigen Tagen durch das Parlament gebracht. Nach dem Austausch von Verfassungsrichtern wären sie ein weiterer Schlag gegen die Unabhängigkeit der Justiz. „Dreimal Veto“ hieß darauf die Forderung bei Protesten im ganzen Land. Staatspräsident Andrzej Duda soll seine Unterschrift verweigern. Proteste, die die Regierung unter Druck setzten. Inzwischen meldete das Büro des Präsidenten, dass er in zwei Fällen ein Veto einlegen werde.

Der friedliche Protest hat Wirkung gezeigt. Und trotzdem kann er nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) immer noch breite Unterstützung in der Bevölkerung genießt. Die Situation in Polen erscheint von außen betrachtet außergewöhnlich, manchmal grotesk. Dabei wirft sie ein Schlagschlicht auf eine Problematik, die auch in anderen Demokratien Europas zum Tragen kommt.

Herr Kowalski und der Oberste Gerichtshof

„Wozu braucht Herr Kowalski das Oberste Gericht?“ fragte unlängst provokant ein polnischer Reporter eine Richterin im Interview zur „Justizreform“ der Regierung. Ob Herr Kowalski, dessen deutsches Pendant in etwa der Otto-Normalverbraucher wäre, für die Unabhängigkeit der Richter oder für eine starke Regierung Partei ergreift?

Die Angriffe auf den Obersten Gerichtshof und den Nationalen Justizrat sind für viele Bürger zuerst eine abstrakte Bedrohung. Für den Angestellten in der polnischen Kleinstadt oder den Selbstständigen auf dem Land ist es nicht zwangsläufig ersichtlich, warum eine Neubesetzung des Obersten Gerichtshofs ihm persönlich schaden sollte. Die sozialpolitischen Maßnahmen der Regierung PiS, wie das eingeführte Kindergeld oder die Absenkung des Renteneintrittsalters erscheinen dagegen vielen aus der Wählerschaft der PiS als konkrete Maßnahmen in ihrem Sinne. „Wir gehen die Probleme der normalen Polen an und nicht die der Eliten“ verkündete Beata Szydlo denn auch passend anlässlich der Absenkung der Rente.

Auch in anderen europäischen Städten schlossen sich Auslandspolen dem Protest an. Wie hier in Brüssel.

Man sei ständig versucht „Verzeihung Frau Doktor“ oder „Pardon, Herr Magister“ zu sagen, kommentierte Konrad Schuller, Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die Zusammensetzung der Demonstranten, die in Warschau für die Unabhängigkeit der Justiz auf die Straße gingen. Es ist wenig verwunderlich, wenn sich vorrangig das Bildungsbürgertum für den Erhalt immaterieller Werte einsetzt.

Eingeschworene Anhänger der PiS sehen die politischen Verhältnisse durch ein gänzlich anderes Prisma. Seit Jahren werden sie mit dem Narrativ versorgt, dass der Staat von ehemaligen Kommunisten und Krisengewinnlern unterwandert ist. Hier wird kaum die Erkenntnis eintreten, dass die von der Regierung beschworenen „guten Änderungen“ (dobre zmiany) vorrangig dem Machterhalt der jetzigen Regierung dienen.

Interessant auch mit welchen Worten der PiS-Abgeordnete Andrzej Matusiewicz den Umbau des Obersten Gerichtes rechtfertigt. In der Gazeta Prawna kommentierte er die von seiner Partei geplante Neuregelung, die dem Parlament erlauben soll, Richter mit langer Berufserfahrung durch Anwälte und Staatsanwälte auszutauschen: „Die Richter des Obersten Gerichtshofs haben oft gezeigt, dass sie in gewisser Isolation von den Bürgern leben. Natürlich sollten die Besten ins Oberste Gericht. Aber sie müssen auch die Leute verstehen können.“

Äußerungen wie diese zielen darauf ab, einen Gegensatz aufzubauen zwischen elitären Richtern und den einfachen Leuten, als deren Anwalt sich die PiS versteht. Ihre Angriffe auf die Institutionen des polnischen Rechtsstaates begleitet die PiS mit ihrem Mantra vom Establishment, das gegen das Interesse des Volkes handle. Auf diese Weise verschleiert sie die Tragweite der geplanten Justizreform, die von Juristen im In- und Ausland als Angriff auf die Gewaltenteilung angesehen wird. Davon abgesehen ist „Volksnähe“ eine zweifelhafte Qualifikation für die Richter des Obersten Gerichtshofs, die mit der Aufsicht über die Verfahren der allgemeinen und Militärgerichtsbarkeit betraut sind.

Offensichtlich hat das liberal-demokratische Modell im Moment ein Vermittlungsproblem. In Zeiten, in denen das Vertrauen in Journalismus und Wissenschaft leidet, scheint diese Vermittlung nicht zu funktionieren. Und das liberal-demokratische Modell verliert, sobald der Schutz von Gewaltenteilung und die Garantie von Bürgerrechten als Projekt einer abgehobenen Elite verstanden werden. In dieser Situation ist es wichtiger denn je, aufzuzeigen, dass das Eliten-Bashing illiberaler Parteien nichts damit zu tun hat, soziale Ungleichheiten zu bekämpfen.

In Ungarn zeigt sich deutlich, wie populistische Rhetorik von der Veruntreuung von Steuergeldern ablenkt. Die Regierung Fidesz hat ein Umfeld geschaffen, in dem Gefälligkeiten und öffentliche Aufträge in Millionenhöhe ausgetauscht werden. Die Verbindung zur Regierung Fidesz ist auch nach dem Ausscheiden aus dem Amt noch wertvoll, wie das Beispiel eines Unterstaatssekretärs zeigt, der sein monatliches Gehalt dank eines anschließenden Vertrags mit dem Büro des Premierministers verdreifachen konnte. Auch im Umgang mit europäischen Fördermitteln zeichnet sich die Regierung Orbán nicht durch Transparenz aus. Derzeit führt die EU 57 Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn. Beklagt wird, dass öffentliche Ausschreibungen meistens nur einen einzigen Bieter hatten. Zeichen einer Günstlingswirtschaft, die kaum Echo findet angesichts des wirtschaftlichen und politischen Drucks auf die unabhängige Presse in Ungarn.

Regierungen zu kontrollieren und abwählen zu können, wenn sie das Vertrauen verspielt haben, das ist ebenso im Interesse eines Herrn Kowalskis wie eines Otto-Normalverbrauchers. Der Oberste Gerichtshof in Polen prüft nicht nur die Rechtmäßigkeit von Verfahren unterer Instanzen, sondern auch von Wahlergebnissen und Referenden. Die PiS wurde aus dem nachvollziehbaren Grund gewählt, weil die Menschen nach 8 Jahren einer Koalitionsregierung unter Anführung der Bürgerplattform PO Veränderungen wollten. Für Verfassungsänderungen wie sie derzeit faktisch stattfinden hat sie jedoch kein Mandat. Und sollte die Zufriedenheit mit der Regierung Szydlo bis zu den Wahlen 2019 sinken, dann müsste der Weg frei sein für einen Politikwechsel. Der geordnete Machtwechsel ist die Mindestanforderung und der größte Vorzug einer Demokratie.

Konservative Revolution mit freundlicher Fassade

Die PiS wurde im Herbst 2015 mit absoluter Mehrheit gewählt. Erstmals hatte im demokratischen Polen eine Partei so breite Zustimmung erhalten, dass sie ohne Koalitionspartner regieren konnte. Bereits bei den Präsidentschaftswahlen hatte die PiS mit dem kaum bekannten EU-Abgeordneten Andrzej Duda ein frisches Gesicht präsentiert und breite Wählerschichten erreicht. Spitzenkandidatin Beata Szydlo triumphierte im Wahlkampf mit den Themen, die die Emotionen vieler Polen bewegten: sozialpolitische Maßnahmen, wie der Erhöhung des Kindergelds und der Rückkehr zur Rente mit 65 Jahren (bzw. 60 Jahre für Frauen). In der Kontroverse um die Aufnahme von Flüchtlingen im Sinne einer europäischen Lastenteilung brachte sich die PiS gegen die geringfügigen Zugeständnisse der Ministerpräsidentin Ewa Kopacz in Stellung.

Eine Themensetzung, die zusammen mit der niedrigen Wahlbeteiligung und einer fragmentierten Opposition der PiS einen historischen Wahlsieg bescherte. Präsident Duda und das Kabinett Szydlo hatten Vertrauen erworben und das Spiel des demokratischen Wettbewerbs für sich entschieden. Wie schnell die Regeln dieses Spiels sich ändern ließen, mit welcher Geschwindigkeit zuerst das Personal des Verfassungsgerichts, dann des staatliche Rundfunks ausgetauscht werden sollten, überrascht auch jene Beobachter, die klar erkannten, dass hinter dem moderaten Auftreten die Ambitionen standen, mit der alten Verfassungsordnung zu brechen und eine „IV. Republik“ zu errichten.

Gemeint sind die Ambitionen von Parteichef Jaroslaw Kaczynski. Theoretisch einfacher Abgeordneter des Sejm, praktisch der mächtigste Mann im Staat. Während seiner kurzen Zeit als Ministerpräsident (2006/2007) wurde Kaczynski von den Polen schlechter als die meisten vorherigen Regierungschefs bewertet. Heute agiert er im Hintergrund während sich Beata Szydlo in den Umfragen einer steten Beliebtheit erfreut. Auch wenn insbesondere jüngere Wähler der Regierung ihre Unterstützung entziehen, sind nach Umfragen des renommierten Instituts CBOS immer noch 51 Prozent mit den Leistungen der Regierung Szydlo zufrieden.

Eine Erklärung für die nicht nachlassende Beliebtheit der PiS mag der Umstand sein, dass die Regierung den öffentlichen Rundfunk unter die Aufsicht von Jacek Kurski, eines ehemaligen Mitglieds des Wahlkampfstabes von Jaroslaw Kaczynski gestellt hat und ihr damit große Möglichkeiten gegeben sind, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Die Regierung und die ihr zur Verfügung stehenden Medienkanäle scheuen es nicht Tatsachen zu verbiegen, um den kompletten Austausch des obersten Gerichtshofs und die drastisch erweiterten Befugnisse des Justizministers als einfache Justizreform darzustellen, die sich an den Standards in anderen europäischen Ländern orientiere. Falschdarstellungen, denen wiederholt von polnischen Juristenvereinigungen und Richtern aus den genannten Ländern widersprochen wurde.

Die polnische Juristenvereinigung IUSTITIA korrigierte auf Twitter Angaben des Justizministers über die Besetzung von Richtern in europäischen Ländern.

Institutionen haben nur die Bedeutung, die wir ihnen geben

Die Unabhängigkeit der Gerichte, die Freiheit der Presse, die Rechte der Opposition. Das sind Werte, die gerne in Sonntagsreden beschworen werden. Aber sie bleiben Leerformeln, die alles und nichts bedeuten können, wenn sie nicht konkret ausformuliert und praktiziert werden. Begriffe, die genauso ausgehöhlt werden können, wie die demokratischen Institutionen selbst. Die Sprechblasen des türkischen Staatspräsidenten Erdogan, der angesichts einer Hexenjagd auf die Opposition vom „Triumpf der Demokratie“ spricht, darf als Endpunkt einer solchen Entwicklung verstanden werden.

Wir sehen in Polen, welche Gefahren es birgt, wenn die Grundlagen des Rechtsstaats wie unabhängige Gerichte und eine freie Presse nicht mehr als Wert an sich, sondern als Ausdruck der Privilegien einer kleinen politischen Klasse dargestellt werden. Dem Teil der gesellschaftlichen Eliten, die die Freiheitsrechte gegenüber dem Staat und eine auf Fakten basierende Berichterstattung ernst nehmen gelingt es immer weniger, diese Werte über ihren eigenen Dunstkreis hinaus zu verbreiten.

Das erschreckende an den Entwicklungen in Polen ist neben der Geschwindigkeit die Skrupellosigkeit mit der Institutionen geschliffen werden. Der Bruch mit Konventionen und Gewissheiten lässt sich vermutlich in vielen Fällen auf die besondere Veranlagung der grauen Eminenz Jaroslaw Kaczynski zurückführen. Gerade aus deutscher Perspektive, mit der Ausgeprägten Sehnsucht nach Stabilität erscheinen Ereignisse, wie der in Polen stattfindende „Juli-Putsch“ (Zamach Lipcowy) gegen die Gerichte jenseits der Vorstellungskraft. Bereits 2015 als das Verfassungsgericht die von der Regierungsmehrheit beschlossene Benennung von Richtern aufhob, weigerte sich das Büro von Ministerpräsidentin Szydlo schlichtweg, das Urteil im Amtsblatt zu veröffentlichen. Das Inkrafttreten wurde somit verhindert. Warum Kazcynskis Partei zu solchen drastischen Maßnahmen griff? Weil sie es konnte.

Das Beispiel Polen zeigt, dass demokratische Institutionen nicht in Stein gehauen sind. Sie sind zerbrechlich und nur solange von Bestand, wie sie tatsächlich von der Bevölkerung verteidigt werden. Institutionen haben nur die Bedeutung, die wir ihnen geben. In Polen scheint eine kritische Masse dies verinnerlicht zu haben.

Demonstranten in Poznan fordern Staatspräsident Duda zum Veto auf

Wie schon bei den Angriffen auf das Verfassungsgericht im Dezember 2015 gingen in Polen Tausende Menschen auf die Straße. Tagelang begleiten sie die Entscheidungen der Regierung mit kreativem Protest. Schnell haben sich Strukturen und Protestformen entwickelt, um angesichts dieser außergewöhnlichen Situation nicht vereinzelt zu werden. Die Oppositionsparteien demonstrieren bei den großen Kundgebungen immer wieder ihre Geschlossenheit. Eine zivilgesellschaftliche Aktivität, die beeindruckt.

Die Krise ist nicht ausgestanden. Präsident Duda teilte mit, dass an den Gesetzen Änderungen vorgenommen werden und in zwei Monaten wiederum darüber entschieden werde. Währendessen fordern Opposition, der Ombudsmann Adam Bodnar und ein breites Bündnis zivilgesellschaftlicher Akteure auch das dritte verbliebene Veto ein. Ein Gesetz betreffend die Amtsgerichte (Sady Powszechne) wartet noch auf die Unterschrift des Präsidenten. Am Abend soll in Warschau wieder eine Großdemonstration stattfinden.

Die Rufe nach einer Reaktion der EU waren zuletzt immer lauter geworden. Ob die Anwendung von Artikel 7 (der "Atombombe“) zur Aussetzung des Stimmrechts am Veto Ungarns scheitern würde ist nicht klar. Vergangenen Samstag sicherte Orban der polnischen Regierung seine Unterstützung zu. Unabhängig davon sollte dies nicht über eine grundsätzliche Erkenntnis hinwegtäuschen: Die EU-Mitgliedschaft ist keine Versicherung für demokratische Verhältnisse. Wenn die EU ein Klub der Demokratien bleiben soll, dann nur, wenn sich vor Ort genügend Demokraten finden, die das politische System mit Leben erfüllen.

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