Was tun wir uns an?

Serie „Weichenstellungen“: Europa in Zeiten des Terrors

, von  Martin Renner

Was tun wir uns an?
Führt der Anti-Terror-Krieg in den Überwachungsstaat? © Dirk Ingo Franke / Wikimedia Commons / CC BY 3.0-Lizenz

Viele Politiker sehen Europa nach den Anschlägen von Paris und Brüssel im Krieg gegen den „Islamischen Staat“ (IS). Eine auf Dauer gestellte militärische Auseinandersetzung mit dem IS könnte allerdings die Grundlagen unserer offenen Gesellschaften verändern. Ein Standpunkt im Rahmen der Serie „Weichenstellungen“ von Martin Renner.

Seit etwa Mitte der 1990er Jahre fragt die Außenpolitikforschung nicht nur nach der Rolle, die staatliche Identitäten für die Außenpolitik von Staaten spielen, sondern auch, wie außenpolitische Aktivitäten eines Staates auf dessen Identität rückwirken. In einfachen Worten zusammengefasst: Inwieweit definieren wir uns selbst durch die Art und Weise, wie wir uns anderen gegenüber verhalten? Oder prägnanter formuliert: Was macht das, was wir anderen antun, mit uns selbst? Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses von Identität und Außenpolitik will ich in diesem Artikel in groben Linien einige Überlegungen über mögliche Folgen des Krieges gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) als Reaktionen auf die Terroranschläge von Paris für zentrale europäische Identitätsmerkmale anstellen: Erstens, der Krieg gegen den IS wird nicht zu gewinnen sein. Zweitens, eine fortdauernde militärische Auseinandersetzung wird populistischen Strömungen weiteren Auftrieb verleihen. Und drittens riskieren wir durch den ‚Krieg gegen den Terror‘ unsere rechtsstaatlichen Errungenschaften preiszugeben.

Terror made in Europe

Läge das gegenwärtige Europa bei Sigmund Freud auf der Couch, würde er im Militäreinsatz gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) in Syrien wohl eine kognitive Dissonanzreduktion mittels Ersatzhandlung diagnostizieren. In anderen Worten: Wir scheinen bei der Problemanalyse und der Formulierung der Problemlösungsstrategie zu verdrängen, dass die bislang identifizierten Attentäter der Terroranschläge von Paris in Europa geboren und aufgewachsen sind. Und zwar sowohl die Attentäter vom Januar auf Charlie Hebdo als auch die Attentäter vom 13. November. Ebenso übrigens waren die Attentäter von London (2005) Briten, die Attentäter auf den Boston Marathon US-Amerikaner, zwei Mitglieder der Sauerland-Gruppe waren Deutsche. Hunderte, wenn nicht gar Tausende europäischer Jugendlicher schließen sich dem IS an und kämpfen in Syrien. Man kommt nicht umhin zu konstatieren, dass der IS nicht nur ein Kind des Islams, sondern auch ein Kind Europas ist.

Wir werden den Ursachen des islamistischen Terrorismus also nur dann wirksam begegnen können, wenn wir bereit sind, uns schonungslos mit den Ursachen dafür auseinandersetzen, weshalb so viele Jugendliche aus unseren Vororten offen sind für radikale Lehren und bereit sind, dafür in den Tod zu gehen und andere zu töten. Der ehemalige EU-Außenkommissar Chris Patten hat einmal treffend formuliert: „[…] terror lives and grows in the heart, beyond the reach of pickets and munitions. So the ‘war on terror’ is essentially unwinnable […]“. Eine erste, zugegeben vielleicht auch etwas hilflose Maßnahme wäre: Sozialarbeiter, Lehrer und Personalchefs von kleinen und mittleren Betrieben – am besten in Bataillonsstärke – in die europäischen Vororte zu schicken, um den Menschen dort Perspektiven zu geben.

Siegeszug der Populisten?

Die Profiteure einer europäischen Beteiligung an den militärischen Auseinandersetzung im Nahen Osten werden diejenigen politischen Kräfte sein, die mit klaren Feindbildern arbeiten und starke, sich nach außen klar abgrenzende und klar abgrenzbare Identitäten konstruieren – also die europäischen Rechtspopulisten und Rechtsradikalen. Die bislang beispiellose Serie von Anschlägen auf Asylbewerber- und Flüchtlingsunterkünfte zeigt deutlich deren Bereitschaft, ihre Interessen mit Gewalt durchzusetzen. Je stärker die brandstiftende Rechte wird, desto stärker wird die Reaktion der Steine werfenden Linksautonomen. Die demokratische Mitte, die unsere politische Kultur bislang maßgebend geprägt hat, läuft Gefahr zwischen diesen Polen aufgerieben zu werden.

Die zwangsläufige Vermengung der Flüchtlingsfrage mit dem Terror des IS wird zudem die bestehende Kluft zwischen „dem Westen“ und „dem Islam“, zwischen Christen und Muslimen, zwischen Europäern, die christlichen Glaubens sind und Europäern, die muslimischen Glaubens sind, vergrößern. Das Misstrauen und das Konfliktpotential zwischen diesen Bevölkerungsgruppen werden steigen. Und damit wird der Nährboden für den weiteren Aufstieg populistischer Bewegungen bereitet.

Die Preisgabe des Rechtsstaats?

Und schließlich wird uns der Krieg gegen den IS davon abhalten, die überfällige Diskussion über die nach dem 11. September ergriffenen Überwachungsmaßnahmen, über Datenschutz und Rechtsstaatlichkeit im digitalen Zeitalter zu führen. Ist die digitale Revolution als solche schon eine Herausforderung für unser Rechtssystem, kann sie bedrohlich werden, wenn wir sie ‚in Kriegszeiten‘ und unter dem Eindruck der steten terroristischen Bedrohung gestalten. Solange wir uns im ‚Krieg gegen den Terror‘ befinden, werden wir dazu neigen, mehr Freiheitsrechte zugunsten von vermeintlicher Sicherheit aufzugeben. Leider lehrt die Geschichte, dass Freiheitsrechte nie geschenkt, sondern immer erkämpft werden mussten. Wenn wir sie also aufgegeben haben, werden wir sie so schnell nicht mehr bekommen.

Die JEF Deutschland hat sich in ihrem Beschluss „Die massenhafte Speicherung und Auswertung von digitalen Daten als Gefahr für Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Frieden“ (Bundeskongress 2014) zu dieser Problematik deutlich zu Wort gemeldet: Die vielfach noch in der analogen Welt verhaftete und unter dem Eindruck terroristischer Bedrohung stehende Rechtssetzung könne mit den Dynamiken der digitalen Revolution nicht schritthalten. Dadurch ergäben sich riesige Spielräume für Fehlentwicklungen und schleichende Veränderungen von rechtsstaatlicher Praxis – in letzter Konsequenz auch rechtsstaatlicher Prinzipien. Es lohnt sich, den Beschluss immer mal wieder zur Hand zu nehmen und durchzulesen.

In der öffentlichen Debatte werden allerdings bislang die Maßnahmen zur Ausweitung der Befugnisse der Geheimdienste mit dem Verweis auf unsere stabilen Demokratien und Rechtsstaaten legitimiert. Stattdessen sollten wir uns wieder die politische Philosophie von Karl Popper ins Gedächtnis rufen, der die offene Gesellschaft stets in Gefahr sieht und der daher als die zentrale politische Leitfrage für demokratische Systeme formulierte: „Wie können wir politische Institutionen so organisieren, dass es schlechten oder inkompetenten Herrschern unmöglich ist, allzu großen Schaden anzurichten?“ Gerade in Frankreich könnte eine Antwort auf diese Frage nach den Präsidentschaftswahlen 2017 zu spät kommen. Wir sollten aufpassen, dass wir als Europäer am Beginn dieses Jahrhunderts aus zu großer Selbstsicherheit nicht erneut in eine Situation schlafwandeln, die wir nicht mehr beherrschen können.

Aus Fehlern der Vergangenheit lernen

Die Antwort Europas auf die Terroranschläge von Paris, wie sie bis heute gegeben wurde, hat also das Potential, Europa nachhaltig zum Schlechteren zu verändern. Im Rückblick auf den 11. September stellte Chris Patten treffend fest: „[…] it was not 9/11 that changed the world so much as the response to 9/11.” Wir sollten uns nicht scheuen, aus unseren Fehlern zu lernen.

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