SI oder NO: ein Referendum, zwei Meinungen

Verfassungsänderung in Italien per Volksentscheid?

, von  Michael Vogtmann, Oscar Polli

SI oder NO: ein Referendum, zwei Meinungen

Am Sonntag wird in Italien ein Referendum abgehalten. Darin wird über die von Matteo Renzi angestrebte Verfassungsreform entschieden. In Italien wird hitzig darüber debattiert - Zeit für einen Faktencheck. Zwei unterschiedliche europäische Perspektiven im Hinblick auf ein Thema, dass für ganz Europa relevant ist, nicht nur Italien.

Vielleicht wäre ein “NO” besser:

Matteo Renzi beging einen großen Fehler, als er einst seine politische Zukunft an den Ausgang des Referendums koppelte. Während der niederländischen Ukraine-Abstimmung und dem Brexitentscheid konnte man beobachteten, wie Referenden missbraucht wurden, um ungeliebte Regierungen abzustrafen oder zu stürzen. Das eigentliche Thema der Abstimmung spielte teilweise eine untergeordnete Rolle. Das Risiko, dass dies nun auch bei diesem Entscheid geschieht, ist recht hoch. Deshalb nochmal für alle: Dies ist keine Abstimmung über Matteo Renzis Zukunft oder eine Meinungsumfrage im Bezug auf seine Regierung! Die Frage lautet: Wird diese Verfassungsreform zu einem politisch stabileren Italien führen? Da Italien Gründerstaat des politischen Europas und drittgößte nationale Volkswirtschaft innerhalb der Eurozone ist, handelt es sich um eine Frage größter Bedeutung für alle Europäer!

Das politische System in Italien basiert auf dem Zwei-Kammer Ansatz. Das Abgeordnetenhaus ist die Repräsentanz der Bürger, der Senat die der italienischen Regionen. In der Vergangenheit brauchten Regierungen Mehrheiten in beiden Kammern um Gesetze und Reformen zu verabschieden. Diese Reform zielt in erster Linie darauf ab, den Einfluss des Senats in vielen Politikfeldern einzuschränken und damit den Einfluss der Regionen auf nationale Politik. Auch in der Bundesrepublik Deutschland herrscht ein Zweikammersystem. Der Bundestag ist die Vertretung der Bürger, der Bundesrat die der Bundesländer. Auch hier gibt es nationale Politikfelder, in denen die Kammer der Regionen keinen Einfluss geltend machen kann. So betrachtet würde ein positiver Entscheid in Italien zu einem System führen, das dem deutschen ähnlicher wäre, welches sich in der Geschichte als weitaus stabiler präsentierte. Was diese Argumentation jedoch ausblendet, ist die föderalistische Perspektive. Wenn man das deutsche föderale Modell mit der geplanten Reform vergleicht, stößt man auf deutliche Unterschiede. In Deutschland finden Landtagswahlen statt, die Länder haben regionale Parlamente und Regierungen, die Vertreter in den Bundesrat nach Berlin entsenden. Auf der einen Seite ist der Einfluss der Regionen auf nationale Politik begrenzt, aber der Einfluss der Länder auf die regionale Politik viel umfangreicher. Im Gegensatz dazu wird die Reform in Italien zu einem weitaus zentralistischerem und weniger föderalistischem System führen, was für einen großen Flächenstaat als schlechte Lösung angesehen werden kann, insbesondere im Hinblick auf die Vielfältigkeit der regionalen Kulturen und Minderheiten, wie z.B. die deutschsprachige Minderheit in Südtirol.

Eine anderer kritsicher Aspekt ist die Kombination dieser Reform mit dem seit neustem geltenden grundsätzlich undemokratischem Wahlrecht. Es garantiert der stärksten Partei eine 52%-Mehrheit in der Abgeordnetenkammer, wodurch Koalitionsregierungen überflüssig gemacht wurden. Was würde aber passieren, wenn eine nationalpopulistische “5-Stelle” Partei von Beppe Grillo die meisten Stimmen erhält? Eine solche Regierung könnte großes Chaos anrichten, ohne dass ein oppositioneller Senat im Sinne der Checks and Ballances Schadensbegrenzung betreiben könnte. Dies wäre eine Bedrohung für die gesamte Eurozone und alle europäischen Bürger. Also vielleicht ist ein “NO” nicht das schlimmste aller Szenarien.

Autor: Michael Vogtmann

‘SI’ für ein starkes Italien in Europa:

Am 04. Dezember sind die Italiener aufgerufen, über eine historische Verfassungsreform zu entscheiden. Premierminister Matteo Renzi führte viele wichtige Gründe für die Reform an, wie die Beschleunigung des Gesetzgebungsprozesses durch die Beschränkung der Rolle des Senats. Zusätzlich sollen Kosten eingespart werden, durch die Reduzierung der Anzahl der Senatoren und die Abschaffung des CNEL. Einer der reizvollsten Gründe ist die neue Rolle des Senats. Mit dieser Reform will sich Italien europäisieren, indem es die Europäische Union als wesentliche Kraft anerkennt, die direkten Einfluss auf das Leben der Bürger hat. Im Gegensatz zur aktuellen Verfassung, in der auf die Europäische Union nur am Rande verwiesen wird, schreibt Artikel 55 der neuen Verfassung die direkte Beteiligung des Senats bei der Ausarbeitung und Umsetzung der europäischen Gesetzgebung sowie der Prüfung ihrer Auswirkungen vor. Dadurch rückt die Europapolitik näher an den Bürger und es wird ein Signal des Vertrauens in die Zukunft der europäischen Integration gesetzt. Mit anderen Worten wird es zu mehr Italien in Europa und mehr Europa in Italien führen. Letztlich wird dadurch eine stärkerer Kurs in Richtung pro-Integration gesetzt und an die Ideen der Gründerväter der EU erinnert.

Ein möglicher Triumph des “NO”-Lagers könnte zu einer unvorhersehbaren und gefährlichen Situation führen. Obwohl Renzi seine ursprüngliche Aussage er würde “nach Hause gehen, im Falle einer Niederlage” zurückzog, hat sich das Referendum in der Wahrnehmung der Bürger in eine nationale Testabstimmung über die Regierung verwandelt. Wenn Renzi verliert und zurücktritt, könnte eine Neuwahl in der aktuellen Situation zu einem Sieg der führenden Oppositonspartei führen, der Fünf-Sterne-Bewegung des Komikers Beppe Grillo. Sie hat bereits ein konsultatives Referendum über Italiens verbleib in der Eurozone angeregt. Auch darf man nicht vergessen, dass diese Partei im Europaparlament in einer Fraktion mit Nigel Farages UKIP sitzt, die kein geringeres Ziel verfolgt als die Auflösung der Europäischen Union. Außerdem gibt es zwei weitere relevante Parteien, deren Popularität stetig wächst und die eine Herausforderung für Italiens Zukunft in Europa bedeuten. Diese sind die Lega Nord und die Forza Italia. Ihr Sieg könnte sogar zu einem Italexit führen. Dieses Referendum wird in jedem Fall Auswirkungen auf die europäische Ebene haben.

Viele Leute deuten an, dass im Falle einer erfolgreichen Umsetzung dieser Reform, eine Regierung mit absoluter Mehrheit der Fünf-Sterne-Bewegung ein mögliches Szenario wäre. Tatsächlich hängt dies aber mit dem Wahlgesetz zusammen. Aktuell bildet sich aber ein parteiübergreifender Konsens aus, dieses Gesetz wieder zu ändern, womit diese Bedenken entkräftet werden könnten. Letztendlich handelt es sich bei diesem Referendum um eine Gelegenheit zum Wandel, die so schnell nicht wieder kommen wird, wenn das NO-Lager gewinnt. Es mag keine perfekte Reform sein, aber es ist eine Perspektive auf ein gut funktionierendes politisches System in Italien und es bettet jenes in einen viel umfangreicheren Rahmen ein, nämlich Europa. Deshalb sollten wir, wenn wir an die Wahlurnen schreiten bedenken, dass wir nicht nur Italiener sind, die in Italien leben, sondern Italiener, die in der Europäischen Union leben.

Autor: Oscar Polli

Redakteur Rubrik Kontrovers: Arthur Molt

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