Plädoyer für eine soziale Grundsicherung in Europa

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Plädoyer für eine soziale Grundsicherung in Europa
Die Europäische Union war im Kern des Sozialrechts, der Existenzsicherung durch Sozialhilfeleistungen, bislang untätig. PhotoMIX-Company / Pixabay / CC0 Creative Commons

Die Europäische Union war im Kern des Sozialrechts, der Existenzsicherung durch Sozialhilfeleistungen, bislang untätig. In vielen Mitgliedstaaten gibt es daher immer noch keine oder keine ausreichende soziale Grundsicherung für Bedürftige. Die Kommission hat mit ihrer Empfehlung für eine Europäische Säule Sozialer Rechte im April einen ersten Vorschlag gemacht. Die Mitgliedstaaten sollen sich verpflichten, ein Grundsicherungssystem zu schaffen. Da die Union bislang keine Kompetenz zur Durchsetzung dieses Vorschlags hat, müssten die Mitgliedstaaten tätig werden. Auf dem europäischen Sozialgipfel im November dieses Jahres wird sich zeigen, ob sie dazu bereit sind.

Die Union ist durch Artikel 3 Absatz 2 des EUV verpflichtet, soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz zu fördern. Sie hat dazu zwar zahlreiche Rechtsakte zum Schutz der Arbeitnehmer erlassen. Sie hat mit der Verordnung 883/2004 auch ein System zur Koordinierung der Sozialversicherungen der Mitgliedstaaten geschaffen. Diese Maßnahmen betreffen aber nahezu nur erwerbstätige Personen und ihre Familienangehörigen sowie Personen, die (in der Regel aufgrund von Erwerbstätigkeit) Ansprüche aus der Sozialversicherung erworben haben. Personen, deren Einkommen zur Existenzsicherung nicht ausreicht, sind nicht erfasst.

Das europäische Recht verpflichtet die Mitgliedstaaten nicht, ein System zur Existenzsicherung zu schaffen. Die Spanne zwischen den Existenzsicherungsstandards in den Mitgliedstaaten könnte dementsprechend kaum größer sein. In Griechenland gibt es derzeit überhaupt kein Grundsicherungssystem. Bedürftige Personen sind auf die Hilfe ihrer Familie oder von Wohlfahrtsverbänden angewiesen. Andere Staaten, wie beispielsweise Spanien, haben zwar Grundsicherungssysteme. Das spanische System ist aber lückenhaft und umfasst nicht die ganze Bevölkerung. Auch wenn es ein Grundsicherungssystem gibt, liegen die Standards teilweise weit unter dem, was nach deutschem Verfassungsverständnis einer menschenwürdigen Existenz entspricht. Dies gilt insbesondere in den Staaten Südosteuropas.

Dem stehen die klassischen Wohlfahrtsstaaten in Nord- und Westeuropa gegenüber, die verhältnismäßig (!) großzügige Sozialhilfeleistungen gewähren. In Deutschland beispielsweise erhalten alle bedürftigen Personen, die sich gewöhnlich im Bundesgebiet aufhalten (mit wenigen Ausnahmen für einige Ausländerinnen und Ausländer, dazu sogleich) Arbeitslosengeld II, Sozialhilfe oder Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Das deutsche Arbeitslosengeld II liegt mit derzeit 409 Euro monatlichem Regelbedarf für eine alleinstehende erwachsene Person sowie der angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung weit über dem europäischen Durchschnitt.

Unterschiedliche Standards verursachen Angst vor Sozialleistungstourismus. Mitgliedstaaten mit hohen Standards schotten sich ab. Bedürftige Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, denen in ihrem Herkunftsstaat keine ausreichende Existenzsicherung gewährt wird, können nicht in einen anderen Staat wandern und dort Sozialleistungen beziehen. In Deutschland beispielsweise haben Unionsbürgerinnen und Unionsbürger in der Regel nur dann einen Anspruch auf steuerfinanzierte Sozialleistungen wie Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe, wenn sie in Deutschland erwerbstätig sind oder waren, § 7 Absatz 1 Satz 2 SGB II/§ 23 Absatz 3 SGB XII. Diese Leistungsausschlüsse im deutschen Recht sind nach den Entscheidungen des Gerichtshofs Dano, Alimanovic und García-Nieto von Artikel 24 Absatz 2 der Freizügigkeitsrichtlinie gedeckt.

Wessen Herz für Europa schlägt, dem ist dieser Protektionismus und die Ungleichbehandlung von Unionsbürgerinnen und Unionsbürger ein Dorn im Auge. Man wird sich dennoch gegenwärtig damit abfinden müssen, die Gesetzgeber der Wohlfahrtstaaten vielleicht sogar verstehen. Die Verfasserin vermag nicht zu beantworten, ob ein reicher Staat wie Deutschland die finanzielle Belastung tragen könnte. Die Verfasserin vermag auch nicht zu beantworten, wie viele Unionsbürgerinnen und Unionsbürger tatsächlich nach Deutschland kämen, erhielten sie hier vollen Zugang zum Grundsicherungssystem. Es ist aber derzeit weder politisch noch sozial durchsetzbar, allen hilfebedürftigen Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern in Deutschland voraussetzungslos Grundsicherungsleistungen zu gewähren. Es können nicht einzelne Staaten für die Existenzsicherung aller europäischen Bürger zuständig sein.

Sollen alle Bürger Europas Zugang zu existenzsichernden Leistungen haben, muss dies derzeit jeder einzelne Staat gewährleisten. Die Höhe der jeweils zu gewährenden Leistungen hat sich dabei zunächst an den jeweiligen Lebenshaltungskosten zu orientieren. Man wird auch jedem Mitgliedstaat überlassen müssen, in einem gewissen Rahmen das Existenzminimum zu definieren. Das Existenzminimum ist nicht in allen Staaten gleich. Nach deutschem Verständnis, insbesondere der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, gehört zu dem von Artikel 1 GG geschützten Existenzminimum auch ein Mindestmaß an Teilnahme am gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Leben. Was zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben erforderlich ist, richtet sich nach dem jeweiligen gesellschaftlichen Leben. Wenn üblicherweise über Hochgeschwindigkeitsinternet kommuniziert wird, ist Zugang zu Hochgeschwindigkeitsinternet Teil des Existenzminimums. Wenn nur wenige Bürger einen solchen Zugang haben, ist der Zugang Luxus.

Nach bislang wohl mehrheitlicher Auffassung fehlt der Union die Kompetenz, die Mitgliedstaaten zur Schaffung oder Ausgestaltung von Grundsicherungssystemen zu verpflichten. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat hingegen kürzlich einen Forschungsbericht veröffentlicht, nach dem die Union ihr Handeln auf Artikel 153 Absatz 1 lit. c AEUV stützen könnte. Sie kann danach Maßnahmen zur sozialen Sicherheit und zum sozialen Schutz von Arbeitnehmern treffen. Der Forschungsbericht legt dafür einen sehr weiten Arbeitnehmerbegriff zugrunde (den sogenannten sozialversicherungsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff). Arbeitnehmer sind danach nicht nur Personen, die in einem Arbeitsverhältnis stehen, sondern auch bspw. auch Arbeitslose und Rentner, soweit sie Zugang zu irgendeinem Sozialversicherungssystem haben. Es ist begrüßenswert, dass Frau Nahles dieses Gutachten in Auftrag gegeben hat, sich damit selbst zu Europa bekennt und hoffentlich einen Stein des Anstoßes gegeben hat. Selbst wenn sich diese weite Auslegung durchsetzt, bedürfen Maßnahmen nach Artikel 153 Absatz 1 lit. c AEUV aber eines einstimmigen Ratsbeschlusses.

So oder so, die Mitgliedstaaten können sich nur gemeinsam zur Existenzsicherung verpflichten. Es wäre effektiv, wenn sie dazu eine entsprechende ausdrückliche Kompetenz auf die Union übertragen würden. Deutsches Verfassungsrecht stünde dem nicht entgegen. Das Bundesverfassungsgericht verlangt in seinem Lissabon-Urteil nur, dass die sozialpolitisch wesentlichen Entscheidungen in eigener Verantwortung der Mitgliedstaaten getroffen werden. Eine allmähliche Angleichung der Systeme sei aber nicht ausgeschlossen (Rn. 259). Solange die Mitgliedstaaten das Existenzminimum selbst definieren, ist den vom Verfassungsgericht gezogenen Grenzen Rechnung getragen. Es spricht aber zurzeit nichts dafür, dass die Mitgliedstaaten in ihrer Gesamtheit eine Änderung des Primärrechts beabsichtigen oder die Existenz einer primärrechtlichen Grundlage anerkennen.

Es bleibt daher zu hoffen, dass die Mitgliedstaaten sich zur Existenzsicherung zunächst völkerrechtlich verpflichten. Die Kommission hat mit ihrer Empfehlung zu einer Europäischen Säule Sozialer Rechte einen entsprechenden Vorstoß gemacht. Grundsatz 14 fordert, dass jede bedürftige Person das Recht auf adäquate Leistungen für ein Leben in Würde hat.

Der europäische Sozialgipfel im November dieses Jahres in Göteborg wird zeigen, ob es bei einer Empfehlung bleibt.

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Dieser Text entstand im Rahmen des von Sinthiou Buszewski und Tim Wihl organisierten Politischen Salons „We think Europe".

Im Lichte der multiplen Währungs- und Wirtschaftskrisen, dem Globalisierungsfrust und dem Niedergang des kosmopolitischen Gedankens im Gefolge der „Migrationskrise“ wollen wir in dem politischen Salon für Europa „We think Europe“ Argumente für Europa formulieren und Fortentwicklungspotentiale identifizieren. Denn trotz einiger Hoffnungsschimmer ist der Europaskeptizismus groß: wegen der Migrationspolitik, die konzeptlos und mutlos erscheint; wegen einer immer noch frappierenden ökonomischen Spaltung; wegen Verträgen, welche in weiten Teilen mit Detailvorschriften verstopft sind, die technokratisch anmuten. Eine sachliche Auseinandersetzung verlangt nach Argumenten, die Vorurteile von rechts – die EU führe zu Souveränitätsverlust, kultureller Vereinheitlichung und massiver Umverteilung – wie von links – die EU sei nur ein Binnenmarkt ohne soziale Komponente, in ihr herrsche der Primat der Konkurrenz – und aus der Mitte – die EU sei undemokratisch und übermäßig bürokratisch – gleichermaßen auf Herz und Nieren prüft. Zu oft haben wir die öffentliche Demontage der EU zugunsten der Profilierung der Mitgliedstaaten beobachtet, ohne dass gleichzeitig eingestanden wurde, dass eine supranationale Institution nur so viel leisten kann, wie die Mitgliedstaaten zulassen.

Europa verdient einen neuen Anlauf. Die EU-Kommission hat kürzlich ihr Weißbuch zur Zukunft Europas vorgestellt. Dieses entwirft Szenarien, die uns insgesamt zu kurz gegriffen scheinen. Viel wichtiger ist, dass die EU starke Reformimpulse plant, um verschiedene „Säulen“ auszubauen – wie etwa die „Europäische Säule sozialer Rechte“. Diese war das Thema unserer ersten thematischen Sitzung und wird daher auch unseren Reigen hier auf dem Verfassungsblog eröffnen. Wir erhoffen uns, Debatten innerhalb einer interessierten Öffentlichkeit argumentativ zu bereichern und Expert_innenwissen so zu demokratisieren. Denn die EU darf kein Spezialistenthema bleiben.

Die Autorin ist promovierte Juristin und arbeitet im deutschen öffentlichen Dienst. Sie zieht es aus diesem Grund vor, anonym zu bleiben.

Dieser Artikel ist ursprünglich erschienen auf verfassungsblog.de

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