Afrozensus: Muna Aikins und Teresa Bremberger im Interview

„Nicht andere forschen über uns, sondern wir machen das!“

, von  Arnisa Halili

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 „Nicht andere forschen über uns, sondern wir machen das!“
#Afrozensus. Fotos: zur Verfügung gestellt von Each One Teach One (EOTO) e.V. und bearbeitet von Anja Meunier mit Material von Pixabay und Unsplash

Daten über das Leben Schwarzer Menschen in Deutschland gibt es kaum. Mit dem Afrozensus starten Each One Teach One (EOTO) e.V. und Citizens For Europe (CFE) unter der Leitung von Muna Aikins und Teresa Bremberger erstmals eine deutschlandweite Umfrage der Schwarzen Community - für eben letztere und durchgeführt von ihren Mitgliedern. Im Interview erzählen sie von den Anfängen des Projekts, der Rolle von Empowerment und über die Bedeutung der Umfrage für Anti-Schwarzen-Rassismus (ASR) auf europäischer Ebene.

Es handelt sich weniger um eine Idee, sondern mehr um einen Bedarf. Obwohl Schwarze Menschen über Jahrhunderte in Deutschland gelebt haben, gibt es aktuell keine Daten, die die Erfahrungen Schwarzer Menschen hervorheben. Das möchte der Afrozensus ändern.

Das Community-basierte Bildungs- und Empowerment-Projekt Each One Teach One (EOTO) e.V. in Berlin, die zivilgesellschaftliche Organisation Citizens for Europe (CFE) und das Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung starten gemeinsam eine Umfrage, die erstmals die Bedürfnisse Schwarzer Menschen in Deutschland erfasst und mit deren Ergebnissen Anti-Schwarzem-Rassismus, eine spezifische Form des Rassismus, in dem Schwarze Menschen afrikanischer Herkunft Herabwürdigung, Entmenschlichung und rassistische Diskriminierung erfahren, politisch angegangen werden soll. Die vierwöchige Befragung wird von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gefördert und beginnt Anfang Juli. Mit dabei: Die Schwarze Politologin Muna Aikins und Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlerin Teresa Bremberger, die als Mitglieder von Each One Teach One (EOTO) e.V. in der Projektleitung sind.

treffpunkteuropa.de: Etwas wie den Afrozensus hat es bisher in Deutschland nie gegeben. Warum nicht?

Teresa Bremberger: Deutschland tut sich aus historischen Gründen schwer damit, Daten zu Minderheiten zu erheben. Die Bundesregierung hat dabei ein paradoxes Verhältnis zu dem Thema: Einerseits wurde im Nationalen Aktionsplan gegen Rassismus anerkannt, dass Schwarze Menschen eine vulnerable Gruppe sind, die besonders von Rassismus betroffen sind. Andererseits werden keine relevanten Daten erhoben, was dazu führt, dass wir keine Maßnahmen auf staatlicher Ebene ergreifen können. Dadurch wird nicht berücksichtigt, was Schwarze Menschen in Deutschland brauchen und wie sie unterstützt werden können.

Es geht uns aber nicht darum ethnische Minderheiten in Deutschland einfach in Zahlen zu erfassen. Wir wollen vielmehr Lebensrealitäten und soziale Lebensumstände von Schwarzen Menschen erheben und ihnen politisches Gehör verschaffen. Mit dem Afrozensus verbinden wir vor allem einen empowernden Aspekt für unsere Community.

Eine Community, die geografisch aber auch über zum Beispiel sozioökonomische Schichten verteilt ist. Wie erreicht ihr eure Zielgruppe?

Muna Aikins: Wir nutzen Social Media, aber auch verschiedenste Organisationen und Outreach-Partner*innen der Schwarzen Communities, die dezentral in Deutschland verteilt sind. Zu unseren Ansprechpartner*innen gehören Kirchen genauso wie Vereine oder junge Menschen, die eher auf Instagram unterwegs sind. Es ist uns sehr wichtig, unterschiedliche Lebenserfahrungen und Perspektiven in die Umfrage einzubeziehen.

Teresa Bremberger: Der Vorteil der Studie ist, dass sie unter anderem von EOTO durchgeführt wird, weil wir als Schwarze Menschen Organisation die Kontakte in die Communties haben und wir seit langem mit verschiedenen Schwarzen Organisationen und Vereinen zusammenarbeiten.

Studien zu Rassismus gibt es bereits. Was unterscheidet den Afrozensus von anderen Umfragen?

Muna Aikins: Das Besondere am Afrozenzus ist, dass die Studie von Schwarzen Menschen geleitet wird und wir entsprechend vielfältige Lebensrealitäten einbeziehen und ansprechen können. Außerdem ist die Studie aus einem Community-Prozess heraus entstanden. Viele Organisationen sind am Afrozensus beteiligt. Viele Prozesse im Vorhinein haben dazu beigetragen, dass es den Afrozensus überhaupt gibt. Gleichzeitig werden die Ergebnisse des Afrozensus wieder von uns in die Community getragen. Es forschen somit nicht andere über uns, sondern wir machen das selbst.

Teresa Bremberger: Die deutsche Mainstream-Forschungslandschaft in Bezug auf Diskriminierung oder auch Migration wirft einen sehr weißen Blick auf diese Themen. Dabei nimmt sich eine mehrheitlich weiße Forschungsgruppe eine andere konstruierte nicht-weiße Gruppe als Forschungsobjekt. Das wird als legitime und objektive Forschung gesehen, während die Objektivität von Gruppen, die die Forschung über sich selbst in die Hand nehmen, in Frage gestellt wird. Dabei sind wir legitime Subjekte unseres Forschens und es gibt keinen Grund, warum wir nicht selbst über uns forschen sollten. Weil wir selbst betroffen sind, wird unsere Forschung als subjektiv wahrgenommen, aber weiße Forscher*innen arbeiten auch subjektiv, weil sie die Profiteur*innen von Rassismus sind.

Ich bin der festen Überzeugung, dass wir anders fragen. Indem wir aus der Community heraus sprechen, können wir Fragen stellen, die aus einer weißen Perspektive gar nicht mitgedacht werden können. In gängigen Fragebögen werden zum Beispiel Familienkonstellation abgefragt, die sehr traditionellen Familienverhältnisse aus Vater, Mutter und Kind darstellen. Wir wissen aus unserer Community, dass wir auch andere Familienkonstellationen vorfinden. Mit diesem Wissen können wir Fragen anders konzipieren und andere Lebensrealitäten abbilden. Über diese Umfrage hinaus stellt der Ansatz einen wichtigen Denkanstoß für Forschungen in eine neue Richtung dar, die Community-basiert und auch wirklich partizipativ gestaltet ist. Nicht nur auf dem Papier, sondern mit einem wirklichen Einbezug der Schwarzen Community.

Wie wird eure Umfrage von der Schwarzen Community angenommen? Gibt es Kritik?

Teresa Bremberger: Wir haben positives Feedback erhalten - aber auch konstruktive Kritik! Dabei ging es nicht darum, dass es den Afrozensus nicht geben soll, sondern wie dieser besser werden kann.

Muna Aikins: Beim Afrozensus geht es unter anderem darum, unsere Community zu empowern. Es ist uns sehr wichtig, dass sie Teil des Prozesses sind und ihre Bedenken sowie Änderungsvorschläge äußern können. Innerhalb der Community herrscht Vorsicht: Viele wollen wissen, was mit den Daten passiert, wie es um ihren Datenschutz steht und auch mit welcher Grundhaltung wir die Daten erheben. Wir alle sehen die Notwendigkeit, die Daten zu erfassen. Trotzdem ist es aufgrund der historischen Gegebenheiten in Deutschland nicht einfach, sich darauf einzulassen.

Teresa Bremberger: Welche Schwerpunkte im Fragebogen gesetzt werden, unterscheidet sich je nach Hintergrund und Expertise der Menschen in unserer Community. Gemeinsam haben wir ausgehandelt, wie detailliert wir unterschiedliche Lebensbereiche erheben. Dabei hat es geholfen klarzustellen, dass der Afrozensus die erste Umfrage dieser Art ist, die wachsen darf und weitergeführt werden soll. Der Afrozensus ist ein Startpunkt für zukünftige Forschungen.

Was passiert mit den Ergebnissen der Umfrage?

Teresa Bremberger: Zuerst werden sie in einem Abschlussbericht festgehalten und der Politik und der Community zur Verfügung gestellt. Zum einen verfolgen wir das Ziel, eine Datengrundlage zu schaffen, um Druck auf die Politik zu machen. Wir möchten Handlungsbedarf identifizieren und an die Bundesregierung kommunizieren. Auf der anderen Seite geht es uns darum, in die Community zurück zu spiegeln: Wie geht es uns eigentlich? Wie divers sind wir als Schwarze Menschen in Deutschland aufgestellt? Was sind unsere Lebensumstände? Und vor allem was für einen Beitrag leisten wir zur deutschen Gesellschaft?

Die Umfrage zu Diskriminierungserfahrungen Schwarzer Menschen in Deutschland hat auch zum Ziel zu zeigen, dass das, was ich als Individuum im Alltag erlebe, nicht immer etwas mit mir persönlich zu tun hat. Anhand der Daten kann gezeigt werden, dass es vielen Menschen so geht. Dadurch werden sie Ausdruck von Strukturen. Wir leben in rassistischen Strukturen. Muna hat das mal schön formuliert: Rassistische Diskriminierung zeigt sich nicht erst, wenn jemand auf der Straße beleidigt wurde, sondern auch darin, dass man einen bestimmten Job, eine bestimmte Wohnung nicht bekommen hat. Anhand der Ergebnisse wollen wir zeigen, dass es nicht an einem persönlich liegt, sondern die Gesellschaft so angelegt ist, dass Schwarze Menschen Ausschlüsse erfahren.

Menschen in Deutschland und auf der Welt sind in den vergangenen Wochen im Rahmen der #BlackLivesMatter-Bewegung auf die Straße gegangen. Wie schätzt ihr die Bedeutung der aktuellen Proteste ein?

Teresa Bremberger: Ich bin zwiegespalten: Auf der einen Seite war es unheimlich stark zu sehen, was für eine mediale Aufmerksamkeit die Debatte rund um #BlackLivesMatter bekommen hat, wie viele Menschen auf die Straße gegangen sind und sich positioniert haben. Spannend zu beobachten war auch, wie die Bewegung nach Europa gewandert ist. Auf der anderen Seite, verspüre ich Skepsis, denn es fühlt sich zwar nach etwas Großem an, aber warum passiert das gerade jetzt? Vor George Floyd sind bereits viele andere Schwarze Menschen durch Polizeigewalt zu Tode gekommen.

Muna Aikins: Und das auch in Deutschland! Das ist kein amerikanischer Einzelfall. Und es geht auch darum zu überlegen, wie ich mich solidarisieren kann, sodass sich strukturell etwas ändert. Awareness allein reicht nicht aus. Menschen müssen anfangen, Ressourcen zu teilen, indem sie anfangen sich nachhaltig für die Gleichberechtigung von Schwarzen Menschen einzusetzen. Aus diesem Grund begegne ich den Entwicklungen der letzten Wochen auch mit Zurückhaltung. Aktionen müssen folgen und es bleibt abzuwarten, was in den nächsten Monaten und Jahren passiert.

Steht ihr in engem Kontakt zu anderen organisierten Afro-Communities in Europa?

Muna Aikins: Unsere Kollegin Karen Taylor ist die zuständige Person für die politische Kommunikation bei EOTO im Europäischen Netzwerk gegen Rassismus (ENAR). ENAR ist eine NGO mit Sitz in Brüssel, die europaweit gegen Rassismus, aber auch generell zu Migrationsfragen arbeitet. Es gibt unter anderem ein Symposium für Schwarze Perspektiven in Wissenschaft und Lehre, welches EOTO veranstaltet, in dem wir Austausch mit Akademiker*innen aus den Communities in der EU und Großbritannien haben.

2018 hat die EU eine Publikation namens “Being Black in Europe” herausgebracht. Zum ersten Mal bezieht das Europäische Parlament darin Stellung zu Anti-Schwarzem Rassismus (ASR) und damit zu der spezifischen Diskriminierung gegenüber Menschen afrikanischer Herkunft in Europa. Haben die Ergebnisse euer Projekt beeinflusst?

Muna Aikins: Für „Being Black in Europe“ wurden etwa fünfhundert Schwarze Menschen aus Deutschland zu Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen in Europa interviewt. Fünfhundert Menschen reichen uns aber nicht, deswegen versuchen wir so viele Menschen wie möglich zu erreichen. Wir können auch ein Orientierungspunkt für andere europäische Länder sein. Der Afrozensus repräsentiert über Deutschlands Grenzen hinaus einen wichtigen Schritt. Wir haben uns zum Beispiel auch am Black Census 2018 in den USA orientiert, der mit 30 000 Teilnehmenden zum allerersten Mal erhoben worden ist.

Teresa Bremberger: Aus wissenschaftlicher Perspektive wollten wir da anknüpfen, wo es bereits Ergebnisse gibt. „Being Black in Europe“ war einer von vielen Orientierungspunkten für uns. Während dort die Diskriminierungserfahrung von Menschen mit einer direkten Migrationserfahrung aus “Subsahara-Afrika” erhoben wurde, beziehen wir aber alle Schwarzen Menschen in Deutschland ein. Außerdem ist unsere Umfrage speziell auf die Schwarze Community in Deutschland bezogen. Deutschsprachige Länder wie die Schweiz und Österreich können einfacher daran anknüpfen.

Und auf supranationaler Ebene: Welche Maßnahmen muss die EU gegen Anti-Schwarzen-Rassismus (ASR) ergreifen?

Teresa Bremberger: Die EU muss eine gemeinsame Linie verfolgen, wenn es beispielsweise um Migrationsthemen geht. Wir sitzen in einer EU, die sich teilweise komplett verweigert Geflüchtete aufzunehmen. Das hat auch mit dem Bild zu tun, das Menschen in einigen EU-Ländern von Schwarzen Menschen haben. Gemeinsam müssen Aktionspläne und Strategien gegen Anti-Schwarzen-Rassismus erarbeitet werden. Europa muss die eigene Geschichte anerkennen - und dass Kolonialismus dazu geführt hat, dass viele Schwarze Menschen heute in EU-Ländern leben. Da wird die EU ihrer Verantwortung nicht gerecht.

Muna Aikins: Anti-Schwarzer-Rassismus ist größer, als dass der Kampf dagegen nur auf nationaler Ebene gedacht werden könnte. Europa wird zu einer Festung und wir müssen uns ganzheitlich damit auseinandersetzen, warum das so ist. Gerade mit Blick auf Polizeigewalt muss eine deutsche, aber auch eine europäische Lösung gefunden werden. Umgekehrt kann eine europäische Lösung schneller für Veränderung auf nationaler Ebene sorgen. Denn Menschen, die Polizeigewalt in Europa erfahren, sind vor allem Geflüchtete, sei es an den Grenzen, in den Flüchtlingslagern oder im Alltag - und das ist eine europäische Verantwortung, die vernachlässigt wird. Wir sprechen viel über die USA, aber wir müssen darüber sprechen, was hier passiert.

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