Brief an Europa

Laut sein für die Menschenrechte

, von  Gesine Weber

Laut sein für die Menschenrechte
Stufen auf dem Colchester-Campus der University of Essex: die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Foto: Flickr / University of Essex / CC-BY 2.0

Im Dezember jährt sich die Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zum 70. Mal. Aus diesem Grund wendet sich der „Brief an Europa“ diese Woche an die Menschen, die sich für Menschenrechte stark machen.

Liebe Menschenrechtsverteidiger*innen,

am 10. Dezember feiert die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ihren 70. Geburtstag. Euch, die ihr täglich dafür kämpft, dass diese Rechte auch tatsächlich umgesetzt werden, gibt es schon viel länger - ihr habt im frühen 20. Jahrhundert für das Frauenwahlrecht gekämpft, habt mit gewaltlosem Widerstand auf Missstände aufmerksam gemacht, wart eine Stimme für diejenigen, die keine hatten. Und während am 10. Dezember feierlich an ein wirklich wichtiges Dokument und seine Wirkung erinnert wird, steht ihr doch zu oft im Schatten der Öffentlichkeit. Dabei habt ihr es heute in vielen Ländern schwieriger als noch vor wenigen Jahren. Wo Regierungen euch zum Schweigen bringen wollen, müssen wir laut sein für euch.

Viele unserer Leser*innen begegnen dem Begriff „Menschenrechtsverteidiger*innen“ an dieser Stelle möglicherweise zum ersten Mal. Vielleicht bezeichnen sich viele von euch selbst nicht als Menschenrechtsverteidiger*innen, weil euch der Begriff zu formell, zu hochtrabend, zu pathetisch ist. Laut der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte beschreibt er aber all diejenigen „Menschen und Gruppen, die sich gewaltfrei für den Schutz und die Förderung der Menschenrechte einsetzen“. Damit seid ihr diejenigen, die Rechte einfordern, denen Staaten zwar mit ihrer Unterschrift zugestimmt haben, sie aber nicht umsetzen. Das passiert nicht immer im Großen, sondern ganz konkret vor Ort. Menschenrechte sind nicht immer Weltbühne, und die wichtigsten Meilensteine werden nicht von großen Organisationen erzielt. Ihr seid diejenigen, die jeden Tag an vorderster Front stehen, dort, wo es weh tut.

Liebe Aktivist*innen, ihr seid so vielfältig: Ihr setzt euch dafür ein, dass Minderheiten in den Staaten, in denen ihr lebt, gehört werden. Ihr berichtet der Welt, wie eine Trägerin des Friedensnobelpreises als Staatsberaterin und damit Regierungschefin in Myanmar dabei zuschaut, wie das Militär im Land Gräueltaten an der muslimischen Minderheit der Rohingya verübt, welche die Vereinten Nationen als Fall ethnischer Säuberung einstufen. Ihr sucht in Rangun und in New York noch immer das Gespräch. Ihr seid es auch, die in Eigeninitiative Frauen und Mädchen in den verschiedensten Staaten über sexuelle Gesundheit und reproduktive Rechte aufklären, oft gegen den Willen konservativer Regierungen. Ihr seid diejenigen, die trotz oder gerade wegen der Fußball-WM in Russland ihre Regenbogen-Fahnen nicht versteckt haben, weil ihr der LGBTI-Community eine Stimme geben wolltet, die nicht hinter der russischen Pressezensur verhallt. Wo wäre Artikel zwei, das Verbot der Diskriminierung, ohne euch?

Liebe Journalist*innen, die ihr eure Regierung kritisiert, wohlwissend, dass sie eure Karriere beenden oder gar euer Leben gefährden können: Ihr seid es, die das aufdecken, was eure Regierungen in Washington oder Istanbul lieber verschleiern würden. Ihr setzt das, was gerade in Parlamenten oder Regierungsgebäuden passiert, in einen Kontext. Ihr gebt Hintergrundinformationen und Analysen, ihr erklärt Menschen, was gerade um sie passiert. Wo wäre Artikel 19, das Recht auf Meinung-und Informationsfreiheit, ohne euch?

Liebe Anwält*innen, die ihr in Staaten, deren Rechtssystem keinesfalls rechtsstaatlichen Standards entspricht, für diejenigen kämpft, die als Dissident*innen bereits im Gefängnis sitzen: Ihr seid unbequem, ihr macht es autoritären Regierungen nicht leicht. Ihr erinnert sie immer wieder daran, dass auch diejenigen, die sie kritisieren, einen fairen Prozess verdienen. Vor allem aber erinnert ihr sie daran, dass sie ein Dokument unterschrieben haben, mit dem sie sich zu den universellen Menschenrechten bekennen. Wo wären die Artikel 7, die Gleichheit vor dem Gesetz, Artikel 8, der Anspruch auf Rechtsschutz, und Artikel 10, der Anspruch auf ein faires Verfahren, ohne euch?

Liebe Lehrer*innen und Erzieher*innen, die ihr täglich unter schwierigen Bedingungen dafür sorgt, dass Kinder lernen: Ohne euch wäre die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ein Stück Papier, das nur die wenigsten lesen könnten. In Schulen und Kindergärten vermittelt ihr Bildung, die Kindern erlaubt, ihre Persönlichkeit zu entwickeln. Mit eurer Geduld, eurem Unterricht in Krisengebieten oder eurem Engagement in für Kinder, die alle anderen aufgegeben haben oder die niemals eine Chance hatten, helft ihr denjenigen, eine Stimme zu entwickeln, die noch keine haben. Die Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai sagte in ihrer Rede vor der UN-Generalversammlung in diesem Zusammenhang: „Ein Kind, ein*e Lehrer*in, ein Buch und ein Stift können die Welt verändern.“ Wo wäre Artikel 26, das Recht auf Bildung, ohne euch?

An dieser Stelle müssten wir noch viel mehr von euch nennen. Die Ärzt*innen, die in Kriegsgebieten bleiben, um Menschen zu behandeln. Die Gewerkschafter*innen, die dafür kämpfen, dass gleiche Arbeit mit dem gleichen Lohn bezahlt wird. Diejenigen, die für freie Wahlen protestieren, damit Menschen mitbestimmen können, was in ihrem Land passiert.

Ihr alle seid es, die weltweit dafür sorgen, dass wir dem Herzstück dieser Erklärung, aller Widrigkeiten und Autokrat*innen zum Trotz, etwas näher kommen: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.“ - Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Artikel 1

Die Vereinten Nationen haben Mechanismen für Menschenrechte, bindend sind sie aber nicht. Auch die Hochkommissarin der Vereinten Nationen für Menschenrechte, Michelle Bachelet, die selbst eine bewegte Vergangenheit hat, ist zu blass - ihre Stimme verstummt auf der internationalen Bühne, wenn diejenigen lauter schreien, die Menschenrechte eben nur als Formalie ansehen. Dabei sind sie viel mehr: Sie sind universell, unteilbar, sie sind nicht verhandelbar. Weil ihr als Menschenrechtsverteidiger*innen immer wieder daran erinnert, seid ihr in demokratischen wie autokratischen Staaten unglaublich wichtig. Aber auch ihr seid nicht unverwundbar. Deshalb ist es unsere Aufgabe, euch zu schützen: Wir müssen unsere nationalen Regierungen immer wieder daran erinnern, für euch Partei zu ergreifen, auch wenn man zeitgleich auf anderen Kanälen über Freihandel oder Waffenexporte spricht. Gerade als Bürger*innen demokratischer Staaten ist das unsere Pflicht, denn wenn wir zumindest etwas von euch gelernt haben, dann ist es das, dass eine einzige Stimme mehr für die Menschenrechte einen Unterschied machen kann. Deshalb sollten wir gemeinsam mit unseren Stimmen den Unterschied machen - damit die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte mehr bleibt als nur ein Stück Papier.

Hochachtungsvoll,

Gesine Weber

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte zum Nachlesen gibt es hier.

Ihr Kommentar
  • Am 3. Dezember 2018 um 08:26, von  Peter Schwarz Als Antwort Laut sein für die Menschenrechte

    In Deutschland stimmt einiges nicht. Menschenrechtsverletzungen werden totgeschwiegen. Menschenrechte sind für die bundesdeutsche Politik und die Medien hierzulande immer dann ein Thema, wenn ein anderes Land ins Visier gerät. Zu der dabei an den Tag gelegten Doppelmoral gehört, über eigene Probleme und Verstöße zu schweigen oder diese klein zu reden. In den meisten Berichten geht es mehr um Flüchtlinge und Asylrecht, aber andere Probleme werden totgeschwiegen....

  • Am 3. Dezember 2018 um 09:41, von  Gesine Weber Als Antwort Laut sein für die Menschenrechte

    Teilweise kann ich da zustimmen: In Deutschland haben wir durchaus noch einiges zu tun. Das sieht im Übrigen auch der VN-Menschenrechtsrat so, was aus der letzten allgemeinen Staatenüberprüfung hervorgeht: https://www.ohchr.org/EN/HRBodies/UPR/Pages/DEIndex.aspx. Gerade in diesem Zusammenhang haben viele Medien jedoch über die Menschenrechtslage in Deutschland auch berichtet, und gerade in Dossiers/ Analysen wird die Problematik oft erwähnt.

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