Brief an Brasilien: „Ihr seid nicht allein!“

, von  Marius Schlageter

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Brief an Brasilien: „Ihr seid nicht allein!“
Rio de Janeiro. Foto: Pixabay / Poswiecie / Creative Commons CC0

Der Brief an Europa wendet sich jede Woche an Personen oder Gruppen, die gerade für Europa besondere Bedeutung haben. Diese Woche schreibt Marius Schlageter an Brasilien und lässt die Brasilianer*innen wissen, dass sie nicht allein sind.

Liebe Freund*innen in Brasilien,

euch einen Brief über die vergangenen Präsidentschaftswahlen zu schreiben, scheint ein hoffnungsloses Unterfangen. Zum einen ist da das koloniale Erbe der Europäer*innen, welches bis heute noch so tiefe Wunden bei euch hinterlassen hat. Zum anderen scheint Brasilien gerade politisch extrem gespalten. Wo also ansetzen, um nicht noch mehr Hass zu provozieren?

Zuerst einmal gilt anzuerkennen, dass jede europäische Einmischung in eure Angelegenheiten sich verbietet. Es sind die von Europäer*innen geschaffenen Machtstrukturen, welche euer Land auch heute noch in der Mangel halten. Es waren Europäer*innen, die euer Land „entdeckt“ - oder wie man eigentlich sagen sollte „erobert“ und anschließend in „Capitanias“, also Verwaltungsdistrikte aufgeteilt - haben. Es waren Europäer*innen, die die Sklaverei erfunden und in Brasilien eingeführt haben. Es waren Europäer*innen, die Rassismus von Beginn ihrer Besetzung strukturell verankert haben und es waren Europäer*innen, welche eure Bodenschätze an sich gerissen und euch ihrer beraubt haben. Der bis heute anhaltende strukturelle Rassismus, die andauernde strukturelle Verankerung der Ausbeutung von Bodenschätzen und die anhaltende strukturelle Machterhaltung für weiße, vor allem männliche Eliten: Das ist das Erbe Europas in Brasilien.

Ich höre schon die Stimmen, die rufen: „Willst du uns Europäer*innen jetzt Schuld an allem geben?“ 
Aus meiner Sicht geht es jedoch nicht um Schuld, sondern darum, Bewusstsein zu schaffen. Bewusstsein für unser Erbe und damit verbunden auch ein Bewusstsein dafür, wie europäische Kommentare in brasilianischen Ohren klingen müssen: Scheinheilig.

Jetzt ist es aber so, dass ich euch, meinen brasilianischen Freund*innen, einen Brief zur Präsidentschaftswahl in Brasilien schreibe. Wie also kommentieren ohne scheinheilig zu klingen? Wenn ich mein eigenes politisches Handeln und die Werte reflektiere, die ich mit meinem politischen Handeln verteidigen und verwirklichen möchte, so kommt mir stets Artikel 2 der Verträge über die Europäische Union in den Kopf:

„Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“ Artikel 2, EU-Vertrag

Es ist wichtig zu wissen, dass diese Werte nicht im luftleeren Raum stehen. Diese Werte sind entstanden als eine Antwort auf Jahrhunderte von Gewalt, die in zwei unbeschreiblich grauenhaften Kriegen gegipfelt sind. Diese Werte sind entstanden aus dem Streben nach einem friedlichen Zusammenleben. Sie sind auch aus der Erkenntnis entstanden, dass gesellschaftlicher Fortschritt und soziale Gerechtigkeit nur durch Einbeziehung der Menschen funktionieren kann.

Damit erklärt sich auch meine Ablehnung gegenüber eurem neuen Präsidenten: Er hat sich wiederholt gegen Solidarität mit den Schwachen und Armen ausgesprochen. Er hat sich wiederholt gegen die Achtung der Rechte von Minderheiten ausgesprochen. Er hat sich wiederholt gegen die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ausgesprochen. Er hat sich wiederholt gegen die Achtung der Menschenwürde ausgesprochen. Jair Bolsonaro hat wiederholt alle Werte verhöhnt, für deren Verteidigung und Verwirklichung ich mich einsetze. Ich nehme Jair Bolsonaros Verhöhnungen persönlich!

„Es geht hier aber nicht um dich Mimimi-Europäer! Bolsonaro wurde demokratisch gewählt und du solltest respektieren, wenn wir diese Werte in Brasilien nicht verteidigen wollen!“ - Sehr richtig. Bolsonaro wurde demokratisch gewählt und das respektiere ich auch. Es ist aber auch richtig, dass Brasilien nicht nur aus Anhänger*innen Bolsonaros besteht. Die großen Protestwellen gegen ihn und seine Politik vor und nach der Wahl zeigen das sehr deutlich.

Deshalb ist dieser Brief auch an „meine Freunde in Brasilien“ gerichtet. Dieser Brief geht an Edna, Álvaro, Nathália, Rosy, Maurício, Julia, Raquel, Lucas, Cacá, Luis, Rafael, Ingrid, Matheus, Pedro, David und an alle anderen Brasilianer*innen, die die Wahl Bolsonaros ebenfalls persönlich nehmen. Dieser Brief geht an alle, die sich für den Erhalt von Demokratie einsetzen. Dieser Brief geht an alle, die sich nicht mit der Herabwürdigung von Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung, ihrer politischen Einstellung oder ihres sozialen Hintergrundes abfinden möchten.

Dieser Brief geht an euch, weil ich euch zurufen möchte: Gebt die Hoffnung nicht auf! Nichts ist unabwendbar! Ihr seid nicht allein!

Es scheint hoffnungslos. Bolsonaro hat gewonnen, ihr habt verloren. Brasilien scheint auf dem Weg zurück in eine grausame Vergangenheit. Eine Vergangenheit, in welcher der Staat Minderheiten unterdrückt und Andersdenkende gefoltert und ermordet hat. Eine Vergangenheit, in welcher euer Leben konkret in Gefahr zu sein droht. Diese Angst muss tonnenschwer auf euren Schultern liegen. Hannah Arendt hat einmal festgestellt, dass „niemand das Recht zu gehorchen hat“: Ich bin fest davon überzeugt, dass ihr das schon lange wisst. In den Tagen nach der Wahl haben viele von euch Hoffnung, Mut und die Bereitschaft sich zu wehren ausgestrahlt.

„Ninguém solta a mão de ninguém!“ Auf Portugiesisch.: „Niemand lässt die Hand des anderen los.“ – Dieser Spruch wurde in den sozialen Medien in Brasilien nach der Wahl Bolsonaros stark genutzt. Deshalb: Organisiert euch, tut euch zusammen! Egal ob ihr euch für Umweltschutz, Bildung, Gleichberechtigung oder anderes einsetzt: Seid euch bewusst darüber, dass ihr alle an einem Strang zieht. Bewegungen wie OTPOR! in Serbien, die mutigen Student*innen in Nicaragua oder die Black Lives Matter-Bewegung in den Vereinigten Staaten haben es euch vorgemacht. Gemeinsam habt ihr eine Chance den Schritt zurück in die grausame Vergangenheit abzuwenden!

In diesem Sinne:

Gebt die Hoffnung nicht auf! Nichts ist unabwendbar! Ihr seid nicht allein!

In tiefer Freundschaft,

Marius

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