Mehr Demokratie oder Lang lebe der Sultan

Reaktionen auf die Verfassungsreform in der Türkei

, von  Niklas Kramer

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Mehr Demokratie oder Lang lebe der Sultan

Politisch aufgeladen war die Stimmung am vergangenen Sonntag. Am letzten Tag des Zuckerfest, am Ende des Ramadans und 30 Jahre nach dem letzten Militärputsch war das türkische Volk zu den Urnen gerufen: Zur Wahl stand nicht mehr als das politische Erbe Atatürks und die zukünftige Rolle des Militärs. Die Reaktionen sind gemischt.

Nach der Wahl steht fest: die Türkei ist gespalten. Nach einem erbitterten Wahlkampf stimmten 58 % der Türken für die Verfassungsreform. Der Rest - soziodemografisch meist im moderneren Westen der Türkei liegend - war zutiefst dagegen. Kernstück der Reform ist die Änderung des Wahlmodus des Verfassungsgerichtes und ein Zurückdrängen der Militärjustiz. Parlament und Staatspräsident sollen in Zukunft mehr Einfluss auf die Ernennung der Richter bekommen. Daneben wurden u.a. die Rechte von Kindern und Behinderten gestärkt sowie dıe positive Diskriminierung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt eingeführt.

Die Unterstützer erfreut

Dıe USA und dıe EU nannten das Ergebnis der Wahl einen “Schritt in die richtige Richtung”. Der spanische Außenminister Miguel Angel Moratinos, dessen Land Ankaras Beitrittsbemühungen in die EU unterstützt, sagte, das Referendum sende „ein klares Signal für die europäische Berufung der Türkei. Trotz der Widerstände und Zweifel in manchen Staaten, glaube ich, dass sich am Ende diese Logik durchsetzen wird.“ Der schwedische Außenminister Carl Bildt sagte indes: “Dies öffnet die europäische Tür, obwohl es immer noch Zeit brauchen wird, hindurch zu steigen.„Der Generalsekretär des Europarats war vor allem darüber erfreut, dass in Zukunft Individualklagen vor dem türkischen Verfassungsgericht erlaubt seien.“Dies eröffnet einen innertürkischen Rechtsweg gegen Menschenrechtsverletzungen und wird den Europäischen Menschengerichtshof bezüglich der großen Anzahl von Fällen aus der Türkei enorm entlasten" Der AKP Fraktionsführer Salih Kapusuz sah das Streben des türkischen Volkes nach einer neuen und zivilbürgerlichen Verfassung bestätigt und versprach sogleich, dass mit Beginn der neuen Parlamentsperiode im Oktober die Harmonisierung mit dem Europarecht weitergehen werde.

Das Ergebnis des Referendums

Ergebnis des Referendums

Ja = Grün; Nein = Rot; Nach Mehrheit in den Provinzen

Die Gegner enttäuscht

Die Gegner der Reform zeigten sich enttäuscht bis wütend. Sie befürchten vor allem eine zu große Macht für den Premierminister Recep Tyyip Erdoğan und sehen das kemalistische Erbe in Gefahr. Die Anti-AKP Tageszeitung Sözcü titelte gar „Lang lebe der Sultan“. Bereits im Vorfeld wurde mit Hitlervergleichen versucht, gegen Erdoğan mobil zu machen. Erdoğan treibe die Spaltung des Landes weiter und strebe die Alleinherrschaft der religiös orientierten AKP voran, so der Haupttenor meist linker und CHP naher Zeitungen. Der ehemalige Richter des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, Riza Türmen, wiederholte das Bedenken vieler seiner Kollegen, dass die Verfassungsreform an dem Grundprinzip der Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit rütteln könnte, da die Justiz von der Politik abhängig gemacht werde.

Politische Folgen

Tatsächlich sehen politische Analytiker in der Wahl vor allem eıne Stärkung Erdoğans. Der ehemalige Bürgermeister İstanbul habe die Hoheit der AKP eindrucksvoll bestätigen lassen und könne sich mehr als gute Chancen für die Parlamentswahlen im nächsten Jahr sowie bezüglich seiner Ambitionen auf das Präsidentenamt machen. Die CHP indes brauche weiterhin Zeit sich zu organisieren, wenngleich dıe 42 % Nein Stimmen auch nicht als Niederlage gewertet werden müsste. Geschwächt seien vor allem die Nationalisten der MHP. Diese haben, so etwa der Kommentator in der englischen Ausgabe der Hürrıyet, trotz eine starken Antikampagne, es nicht verhindern können, dass in allen traditionellen rechtsextremen Hochburgen die Mehrheit der Menschen für die Reform stimmten.

Handlungszwang sahen die Kommentatoren vor allem in der Kurdenfrage. So folgten viele der Menschen in den östlichen und südöstlichen Städten der Türkei dem Boykottaufruf der führenden Kurdenpartei BDP; die Wahlbeteiligung war entsprechend sehr niedrig.

Richtung Europa - Richtung mehr Demokratie?

Dass sich die Türkei europäischen Normvorstellung nähert, ist positiv. Die paradox erscheinenden Ängste modern ausgerichteter Kemalisten sollten aber ebenfalls ernst genommen werden. Verdächtig an der Demokratiefreundlichkeit Erdoğans ist, dass die 10 % Hürde bei den Parlamentswahlen nicht geändert worden ist.

Bild: Das Ergebnis des Referendums. Erstellt von AxG. Unter der Creative Commons-Lizenz Namensnennung 3.0 Unported lizenziert.

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(Der Autor befindet sıch auf eıne Türkeıreise und bezieht sich weitestgehend auf dıe englische Ausgabe der Hürrıyet und persönliche Gespräche)

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