Die Eurozone - ein demokratiefreier Raum?

, von  Christoph Sebald

Die Eurozone - ein demokratiefreier Raum?
Entfernt sich die EU von föderalistischen Idealen? Bestimmte Rechte vorbehalten Alexander Hamilton von dbking

Papandreous Coup und die Gretchenfrage

Es lief über alle Kanäle. Kaum hatte der griechische Ministerpräsident Papandreou sein Volk zum Referendum über die durch die Troika verordneten Sparmaßnahmen aufgerufen, schon liefen die Merkels und Sarkozys der Eurozone Sturm. Die Stabilität der Eurozone und das neugewonnene Vertrauen der Märkte dürfe nicht durch solche Unsicherheiten gefährdet werden. In solch emotionalen Zeiten, sei das Volk unfähig vernünftig zu entscheiden. Prompt wurden weitere Hilfszahlungen auf Eis gelegt und die griechische Regierung enorm unter Druck gesetzt.

Nicht genug, dass man dadurch das Volk zum Schweigen brachte. Nein, man erpresste auch gleich noch die gewählten Vertreter eines Landes, denen man bereits seit Monaten diktiert, was sie zu tun und zu lassen haben. Das ist völlig inakzeptable Machtpolitik, ganz gleich um was es geht und tritt jedes demokratische Empfinden mit Füßen.

Doch so muss man sich wohl „marktkonforme Demokratie“ vorstellen, die sich Europas Herrscher auf die Fahnen geschrieben haben. Zur Befriedung der Finanzmärkte opfert man bereitwillig demokratische Grundsätze. Allein, es stellt sich die Frage: ist es wirklich legitim in Krisenzeiten die demokratischen Rechte der Bürger nach Gusto zu beschneiden?

Das griechische Exempel als europäische Katastrophe

Was soll das sein, eine Krise? Ab wann ist sie derart gravierend, dass man den Willen des Volkes ignorieren dürfte? Es ist völlig offensichtlich, dass niemand diese Frage objektiv beantworten kann. Die Verstöße gegen das Demokratieprinzip wären und sind völlig willkürlich. Willkür ist in demokratischen Rechtsstaaten jedoch keinesfalls hinnehmbar. Ganz davon abgesehen ist es dreist Finanzmarktstabilität höher anzusetzen, als die soziale Stabilität, als den sozialen Frieden in Griechenland.

Seit die „Troika“ über jede Tranche der Hilfskredite den Daumen hebt und senkt, ist Griechenland ihr ganz entschieden ausgeliefert. Offensichtlich gegen den Willen des Volkes wird Sparmaßnahme nach Sparmaßnahme durchgesetzt, um die wucherverzinsten Staatsanleihen vieler Geldinstitute verschiedenster Couleur zu stützen und das Vertrauen der Märkte zu erkaufen. Problematisch ist besonders, dass der Troika jeweils ein Vertreter vom Internationalen Währungsfonds, der Europäischen Zentralbank sowie der EU angehört, wovon die ersten zwei nicht demokratisch legitimiert sind. Die Technokratendiktatur lässt grüßen.

Wenn man sich jetzt noch vor Augen hält, dass die EU wie keine andere Institution auf Akzeptanz von Seiten der Bürger angewiesen ist, wird einem ernsthaft flau in der Magengegend. Nicht nur zwischen den Bürgern, sondern gleichermaßen zwischen den Staaten und ihren Völkern muss die EU Bande knüpfen. Allein, das zarte Pflänzchen zivilgesellschaftlicher Initiative (Europäische Bürgerinitiative), bestehend erst seit dem Reformvertrag von Lissabon, wird bei solch antidemokratischem Verhalten noch vor der Blüte welken.

Die EU ist als Zweckvereinigung zur Friedenssicherung, vor allem aber unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten gegründet worden. Sie entbehrt fundamentaler integrativer Elemente wie einer gemeinsamen Sprache, einer gemeinsamen Kultur oder Geschichte. Eine europäische Identität existiert nicht. Die Bindung zwischen Bürgern und Regenten der Union ist so morsch wie schon lange nicht mehr. Eine Einbindung der Bürger wäre nötiger als je zuvor und doch macht man genau das Gegenteil.

Föderalismus und Demokratie

Föderalismus ist der Ausgleich zwischen Freiheit und Sicherheit. So steht es im legendären Kommentar zur amerikanischen Verfassung von Hamilton, Jay und Madison aus dem Jahr 1787/88. Handlungsfähigkeit und Stabilität der Regierung ist wichtig, will man die äußere und innere Sicherheit aufrechterhalten. Doch zur Freiheit des Einzelnen ist die Demokratie, und somit die Beteiligung aller und jedes Einzelnen, unerlässlich. Bürokratenherrschaft wie im vorliegenden Fall wäre die reinste Tyrannei und für die Federalists völlig inakzeptabel.

Auch Altiero Spinelli spricht sich im Ventotene Manifesto klar für die Partizipationsrechte des Einzelnen aus. Nicht der Mensch soll im Dienste des Staates, sondern der Staat ganz entschieden im Dienst des Menschen stehen. Menschliche Entfaltung wird erst durch Partizipationschancen gefördert. Die Demokratie ist wesentlich zur Entfaltung der Person und deshalb von so zentralem Wert für unsere Gesellschaft. Dieses hehre Ideal steht mit Blick auf die Vorgänge in Griechenland heute beinah Kopf.

Als überzeugte Föderalisten und Demokraten dürfen wir nicht schweigen, wenn in Europa die Demokratie missachtet wird. Wir dürfen nicht schweigen, wenn unsere europäischen Mitbürger den Interessen von Markt und Kapital untergeordnet werden. Empören wir uns! Denn wenn nicht wir uns empören, wer soll denn dann noch für europäische Werte eine Lanze brechen wollen?

Ihr Kommentar
  • Am 16. November 2011 um 12:39, von  Niklas Als Antwort Die Eurozone - ein demokratiefreier Raum?

    Also 1. heißt Demokratie nicht gleich dirkete Demokratie. Glaubst du dass sich die Griechen wirklich die Konsequenzen bewusst wären in einer Volksabstimmung? Zudem scheint mir Papandreu auch nicht nur demokratische Motive gehabt zu haben. Zudem frage ich dich, ob wir die deutsche Bevölkerung nunmehr über die Hilfen abstimmen lassen sollten? Was soll denn da bitte rauskommen?? 2. Ist die griechische Demokratie nunmal in einem europäischen Kontext. Jeder der einer Volksabstimmung das Wort redet, der riskiert im Endeffekt den Euro und das europäische Projekt. Klar, vllt wäre das Risiko sogar einzugehen. Aber benenne dieses auch mal bitte ehrlich! 3. Sprichst du von demokratischen Rechtsstaat. Ganz genau. Griechenland ist nunmal enorme Schuldverpflichtungen eingegangen. Dass die Gläubiger nun härtere Einschneidungen fordern hat nix mit marktkonforme Demokratie zu tun, sondern eben mit einer rechtstaatlichen. Wo waren den die Demokraten, als Griechenland Jahrelang seine Schulden aufgetürmt hat??

    Sicherlich müssen wir darüber reden, wie wir Griechenland auf einen besseren Wachstumskurs bringen. Aber der Gegensatz zwischen Finanzmärkten und Demokratie, den ja auch Habermas aufmacht, ist einfach viel zu platt. Außerdem bist du mir einfach zu blind was die strukturellen Schwächen in Griechenland angehen. Druck von außen scheint in diesem System mehr als notwendig zu sein. Wenn du das nicht willst, dann ist die Konsequenz ein Rausschmiss aus dem Euro...

  • Am 16. November 2011 um 19:23, von  Christoph Als Antwort Die Eurozone - ein demokratiefreier Raum?

    Lieber Niklas,

    deine Ansichten kann ich leider in keinster Weise teilen, aber erst mal der Reihe nach:

    Nein, Demokratie heißt nicht zwingend direkte Demokratie, aber es heißt sehr wohl, dass wenn in einer Verfassung eine solche direktdemokratische Entscheidung möglich ist, sie schon auf dem verfassungsmäßigen Weg scheitern muss und nicht auf Druck der Anleger oder anderer Staatschefs hin. Ich bin mir überdies sicher, dass auch vor dieser Volksabstimmung ein gesellschaftlicher Diskurs eingesetzt hätte, indem Pro und Contra ihre Chance erhalten hätten. Für wie dumm kann man das Volk eigentlich halten, dass man ihm da keine „vernünftige“ Entscheidung zutraut? Außerdem ist Dummheit qua definitionem kein demokratisches Ausschlusskriterium. Das sollte man auch im Hinterkopf behalten.

    Was bei Plebisziten herauskommen soll? Ich würde sagen, der Wille des Volkes. Kein gering zu schätzendes Gut wie ich meine, gerade in so fundamentalen Situationen.

    Klar kann man Griechenland nicht losgelöst vom europäischen Kontext betrachten, das ändert aber nichts an der Tatsache, dass die EU immer noch ein Projekt ist, das der Zustimmung der Bürger bedarf und deshalb auch eine Politik im Einklang und nicht gegen das Volk zu betreiben hat. Es bedarf sozialverträglicher Implementationsformen, gerade der Politik zur Lösung der Krise. Man sollte sich endlich eingestehen, dass die Brechstangenpolitik zur Rettung von Investoren (die man dann unseriöserweise mit der Rettung der EU gleichsetzt oder irgend solchen Hirngespinsten) zu Lasten des Volkes, eben jenes Volk – oder jene Völker – der EU entfremdet. Nach Jahren zunehmender Lohnspreizung und vermehrter Sozialstaatsbeschneidungen hat der Bürger auf so Mätzchen nun mal keinen Bock mehr und schon zweimal nicht, wenn er nicht mal mitreden darf – und das kann gefährlich werden.

    Nein, ich würde sogar weitergehen, der Gegensatz zwischen Demokratie und dem heutigen Kapitalismus ist evident. Demokratie ist die Vorstellung von der Gleichheit der Menschen, der neoliberale Kapitalismus hingegen eine stark aristokratische Wirtschaftsform, dem an Gleichheit nichts gelegen ist und der es in den letzten Jahren aufs Beste verstand und weiterhin versteht, die Demokratie auszuhöhlen. Die neoliberale Ideologie ist der Krebs der unsere Gesellschaft zernagt und den sozialen Frieden zerstört.

    Klar, die strukturellen Schwächen in Griechenland, wer sieht die nicht. Aber mit einem völlig übertriebenen, kein bisschen auf die sozialen Folgen Rücksicht nehmenden Sparprogramm ist einfach niemandem geholfen (außer Anlegern und Spekulanten). Man bräuchte ein wirtschaftliches Aufbauprogramm, aber dafür will ja niemand Geld in die Hand nehmen. Stattdessen überzogene Forderungen, illegitimer Druck, ökonomistisch eigennutzorientierte Argumentation und Machtpolitik. Da will man fast den Glauben an eine europäische Vision verlieren.

    Ganz davon abgesehen hast du die Troika – die ich in meinem Artikel ja auch scharf kritisiere – in deinem Kommentar völlig außen vor gelassen. Wenn die nicht undemokratisch ist, dann weiß ich nicht mehr!? Auch deine Herangehensweise war hier relativ platt. Genauso verfehlt ist es über den Rausschmiss Griechenlands aus dem Euro zu reden. Jahrelang wusste man um die Gefahren und Missstände, jahrelang hat man von allen Seiten zugeschaut und nichts gemacht, jahrelang hat man mit absolut unverantwortlichen Geschäften (z.B. Rüstung) in Griechenland auf Kosten der Griechischen Staatskasse Geld gemacht. Jetzt die Schuld dafür allein Griechenland (oder anderen „Problemstaaten“) anzulasten ist krass impertinent. Folglich ist auch die einseitige Verteilung der Lasten völlig unangebracht. Die Kernstaaten sollten ihrer Verantwortung endlich gerecht werden und ihrer Teilschuld gemäß zur Lösung der Krise beitragen.

    Wir brauchen schlicht eine Lösung die das Volk mittragen kann, eben eine demokratische Lösung, bei der, wenn das Volk darüber abstimmen müsste, man nicht Angst haben muss, dass es die Lösung ablehnte.

  • Am 16. November 2011 um 20:51, von  Niklas Als Antwort Die Eurozone - ein demokratiefreier Raum?

    Nochmal: Frag mal die Deutschen, was die mittragen wollen? Da kann man noch soviel Pro/Kontro Debatte führen, am Ende würden die Deutschen der Griechenland Rettung nicht zustimmen! Im Übrigen frage ich mich, wie du die Frage des Referendum formuliert hättest? A. Pest und B. Cholera oder A. Cholera und B. Pest??

    Rettung der Investoren = Rettung des Euros und Griechenland. Denn deren Vertrauen muss man gewinnen, die riesigen Schulden Griechenlands zu tragen. Da kann man natürlich darauf verweisen, dass die Geschichte des IWF gezeigt hat, dass zu harte Sparanstrengungen kontraproduktiv sind. Aber das Ganze einfach dem griechischen Volk zu überlassen? Der Witz der Troika ist an dieser Stelle gerade dass sie unabhängig sind. Könnte natürlich auch einfach weiterhin der deutsche Steuerzahler aufkommen und Gelder nach Griechenland pumpen. Mmh, da hat aber leider der kontraproduktive demokratische Bundestag wieder eine Riegel bei 450 Milliarden Euro gesetzt, der auch nur durch fadenscheinige Hebelmechanismen auf 1 Trillion gehoben wird. Mmh bleibt noch die EZB die gerade Kreditrisiken von 400 Milliarden Euro auftürmt. Aber ist die demokratisch?? Nein, sogar eher ein klarer Rechtsbruch!

    Der böse Neoliberalismus? Finanzmärkte sind grundsätzlich auch ziemlich egalitär, da die nur nach Rendite gucken und nach nix sonst. Da bedient das System in Griechenland eigentlich viel mehr Partikularinteressen. Natürlich brauchen wir mehr Regulierung und du kannst über Verteilgungsfragen reden, aber am Ende muss dir irgendjemand das Kapital geben, oder?

    Schuldfrage ist falsch. Keiner hat Griechenland gezwungen deutsche Uboote zu kaufen, geschweige den ihr System falsch aufzubauen. Wir können über eine richtige Sprache reden, die eben keine BlameGames spielt. Aber wir müssen ehrlich sein: Jetzt über ein Mangel an Demokratie zu jammern, wird nicht den Euro retten.

  • Am 16. November 2011 um 22:42, von  Christoph Als Antwort Die Eurozone - ein demokratiefreier Raum?

    Wieso bist du dir so sicher, dass „die Deutschen“ nach einer pro/contra Debatte einer Rettung Griechenlands nicht zustimmen würden? Ich finde da muss man schon ein sehr fragwürdiges Menschenbild haben, um zwangsläufig zu so einer Einschätzung zu kommen.

    Außerdem ist ein Mangel an Solidarität kein Grund demokratische Rechte sowie die Volkssouveränität zu beschneiden. Man müsste sich viel eher mal fragen, was schiefläuft, dass wir in Europa einen Mangel an Solidarität haben. Sehr wahrscheinlich liegt es auch an der fehlenden Identifikation mit dem Projekt Europa und zwar gerade weil die Bürger nie mitreden dürfen, gerade weil die Bürger den Eindruck haben müssen, dass Investoren in Griechenland ordentliche Gewinne einfahren, während die Sozialleistungen zusammengestrichen werden und die Reallöhne sinken.

    „Rettung der Investoren = Rettung des Euros und Griechenland“ - diese Rechnung kann man halt nicht aufmachen, ohne weitgehende Aufbauprogramme um Griechenland wieder aus der Rezession zu führen. Gerade vor dem Hintergrund, dass die harschen Sparmaßnahmen soziale Konflikte schüren, will mir diese Sichtweise auch kein bisschen plausibel erscheinen. Es gibt keinen langfristigen Plan für Griechenland, was soll das dann bitteschön für eine Rettung sein? Das Einzige was man gerade macht, man verstaatlicht die Schulden – tolle Sache. Wie wäre es mal mit mehr privater Beteiligung bei der Rettung Europas? In Europa gibt es Berge privaten Vermögens (allein in Deutschland 4,88 Billionen Geldvermögen), die sich aufgrund einer komplexen wirtschaftlichen Entwicklung in den letzten Jahrzehnten, in der Kapital aus dem staatlichen in den privaten Sektor abgewandert ist, bilden konnten. Wie viel Schulden hat Griechenland? 237 Milliarden?

    „Im Übrigen frage ich mich, wie du die Frage des Referendum formuliert hättest? A. Pest und B. Cholera oder A. Cholera und B. Pest??“ - aber damit gibst du ja zu, dass die Sparmaßnahmen und damit das Verbleiben im Euro entweder Pest oder Cholera sind, die dann auch noch von außen aufgezwungen werden. Da kann man dann die Entscheidung auch getrost dem Volk überlassen.

    Der IWF ist doch nicht unabhängig. Es ist unseriös anzunehmen, dass eine Institution deren Geschicke maßgeblich von den großen Haupteignern bestimmt werden, unabhängig sei. Außerdem kann sich so ziemlich jeder Staat was schöneres vorstellen, als beim IWF verschuldet zu sein. Nicht zu Unrecht hat sich seit 1977 bis auf Griechenland und Irland (beide 2010) kein Industrieland mehr an den IWF gewendet.

    Du sagst die EZB sei nicht demokratisch. Richtig. Aber sie ist ja auch Teil dieser undemokratischen Troika und das ist es ja gerade, was ich kritisiere (wobei mir die EZB immer noch lieber ist, als der IWF).

    Selbst wenn Finanzmärkte egalitär operieren sollten (was mein Eindruck nicht ist, da die Bevorzugung hoher Rendite ja keine egalitäre Behandlung ist), ist doch nicht von der Hand zu weisen, dass die Verteilung des Finanzkapitals eine äußerst ungleichmäßige ist und somit kein bisschen von einem egalitären Markt gesprochen werden kann.

    „Natürlich brauchen wir mehr Regulierung und du kannst über Verteilgungsfragen reden, aber am Ende muss dir irgendjemand das Kapital geben, oder?“ Wieso nicht nehmen? Wer sagt denn, dass eine Privatperson ein Recht auf ihr Kapital besitzt, wenn die Verteilung in der Gesellschaft und zwischen öffentlichem und privatem Sektor derart ungleich ist? Es ist nicht hinnehmbar das Recht auf Eigentum soweit zu strapazieren, dass das Recht auf ein Leben in Wohlstand anderer unzulässig eingeschränkt wird – zum Beispiel durch Sozialstaatsdumping oder vollkommen irrwitzige Sparprogramme.

    „Wir können über eine richtige Sprache reden, die eben keine BlameGames spielt.“ Richtig, aber dazu gehört auch, dass man den schwarzen Peter nicht einseitig den PIIGS zuschiebt und sich selbst aus der Verantwortung stiehlt. Seit Jahren schauen die Kernstaaten untätig zu und anstatt mal einen richtigen Schritt nach vorne zu machen, kleben sie notdürftig irgendwelche Löcher zu und verschieben die Lösung der Krise immer weiter in die Zukunft.

    „Jetzt über ein Mangel an Demokratie zu jammern, wird nicht den Euro retten.“ Und wenn du dich zwischen Demokratie und Euro entscheiden müsstest?

  • Am 20. November 2011 um 13:32, von  Daniel Als Antwort Die Eurozone - ein demokratiefreier Raum?

    Hallo Christoph, ich sehe nicht, wieso es undemokratisch ist, wenn potentielle Gläubiger Bedingungen dafür stellen, dass sie einen Kredit vergeben. Undemokratisch wäre es, wenn die Gläubiger einem Land ihre Kredite aufzwingen könnten, aber das ist nicht der Fall. Ob Griechenland die Hilfe der EU und des IWF in Anspruch nehmen möchte, entscheidet letztlich das griechische Parlament, das demokratisch gewählt worden ist. Dass es für Griechenland vermutlich wesentlich schlimmer wäre, die Hilfe nicht anzunehmen, ist nicht die Schuld der EU oder des IWF. Mit Erpressung hat das nichts zu tun. Wenn die Griechen jetzt bedingungslose Kredite einfordern könnten, wäre das vielmehr ein Eingriff in die (nicht zuletzt demokratischen) Rechte derjenigen Staaten, die den IWF, den ESFS usw. finanzieren. Ob man eine moralische Pflicht der anderen EU-Staaten sieht, den Griechen aus Solidarität zu helfen, ist eine andere Frage, über die man diskutieren kann (ich würde dem grundsätzlich zustimmen). Wer im Übrigen eine hohe Meinung von der griechischen Entscheidungsfreiheit hat, kann auch nicht andere dafür kritisieren, dass sie in der Vergangenheit den Griechen Rüstungsgüter etc. verkauft haben. Es wäre reichlich paternalistisch zu sagen: „Wir müssen die Griechen vor sich selbst beschützen und deshalb verkaufen wir ihnen nichts mehr, weil sie es sich nicht leisten können.“ Die Diskussion zwischen dir und Niklas, ob die Märkte egalitär sind, halte ich nicht für fruchtbar, da ihr von völlig unterschiedlichen Gleichheitsbegriffen ausgeht. Den von dir verwendeten Begriff des „Willen des Volkes“ halte ich für eine Fiktion des 18. Jahrhunderts.

  • Am 21. November 2011 um 10:09, von  Christoph Als Antwort Die Eurozone - ein demokratiefreier Raum?

    Hallo Daniel,

    die Frage ist doch, ob das griechische Parlament wirklich noch eine Entscheidungsmöglichkeit hat und das ist in meinen Augen eben nicht mehr der Fall. Damit ist allerdings nicht nur das Parlament, sondern auch die Meinung des Wahlvolks liquidiert. Sehr problematisch finde ich auch, dass die PIIGS (speziell Griechenland) recht einseitig für die Resultate der Krise in Haftung genommen werden. Die Bedingungen sind völlig unangemessen angesichts der Tatsache, dass der Finanzsektor bisher jeglicher wirksamen Regulierung oder Beteiligung zur Krisenbewältigung entgehen konnte (obwohl es sich hier um wesentliche Mitverursacher handelt). Auch kann für eine korrupte griechische Ober- und Beamtenschicht nicht das ganze Volk in Sippenhaft genommen werden. Die Einschnitte im Sozialbereich treffen viele völlig Unschuldige, die unter der Korruption seit Jahren gelitten haben, außerdem treiben sie Griechenland in die Rezession. Ganz davon abgesehen, liegen die Ursachen der Eurokrise ganz klar in den strukturellen Ungleichgewichten innerhalb der EU. Dies sollte aber doch nicht allein von denen ausgebadet werden, die im Moment am wenigsten politische Macht innehaben, weil sie sich nun mal in einer wirtschaftlichen Zwangslage befinden und jeder Bedingung zustimmen müssen. Auch wenn sowohl deine als auch Niklas Argumente nachvollziehbar sind, bleibe ich bei meiner Einschätzung. In meinen Augen handelt es sich um unzulässige Machtpolitik und um einen unzulässigen Eingriff in die Rechte des griechischen Volks.

    Der offenbarste Kritikpunkt bezüglich des Referendums ist in meinen Augen, dass es einfach auf verfassungsmäßigem Wege hätte scheitern müssen, also durch eine Abstimmung im Parlament, die ja für dieses Referendum notwendig gewesen wäre. Aber dazu ist es aufgrund Druck von außen ja gar nicht mehr gekommen und das widerspricht meinen Vorstellungen von Demokratie und Föderalismus nun mal fundamental.

  • Am 25. November 2011 um 18:32, von  Daniel Als Antwort Die Eurozone - ein demokratiefreier Raum?

    Hallo Christoph, ob die von der EU-Kommission, dem IWF oder der deutschen Bundesregierung geforderten Maßnahmen erfolgversprechend und/oder gerecht sind, darüber kann man natürlich lange diskutieren, aber die Tatsache, dass diese Diskussion stattfindet, ist ein Beleg für die Lebendigkeit der demokratischen Kultur in Europa. Warum hat das griechische Parlament keine Entscheidungsmöglichkeit mehr? Niemand kann Griechenland verbieten aus dem Euro/der EU auszutreten und den Staatsbankrott zu erklären. Offenbar (glücklicherweise wie ich denke) halten die griechischen Parlamentarier das bislang mehrheitlich nicht für eine gute Alternative.

  • Am 25. November 2011 um 21:51, von  Christoph Als Antwort Die Eurozone - ein demokratiefreier Raum?

    Hallo Daniel,

    vielleicht haben wir auch ein unterschiedliches Verständnis von freier Entscheidung und Zwang. Klar, bei der Entscheidungsfindung im Griechenland wird natürlich kein explizieter, will heißen physisch manifester Zwang ausgeübt, aber die Welt besteht ja nicht nur aus Schwarz und Weiß, aus völliger Freiheit und völligem Zwang. Ein Parlament ist in meinen Augen bereits dann in seinem Recht auf freie Entscheidung beschnitten, wenn eine Entscheidungsoption durch offenen oder latenten, jedenfalls impliziten Zwang durchgesetzt wird. Wenn also ein kerneuropäischer Staat einem peripheren europäischen Staat eine Entscheidung „nahe legt“, weil man ihm sonst die für ihn überlebensnotwendigen Kredite nicht mehr auszahlen würde, dann liegt diese Form immanenten Zwangs definitiv vor. Die Griechen haben doch nicht wirklich die Wahl einfach nicht mehr zu zahlen und sich in die ungeordnete Insolvenz zu stürzen - das ist doch keine Option. Das hätte völlig unabsehbare soziale und ökonomische Folgen. Diesbezüglich gibt es keine Ausweichmöglichkeit und wenn einem externen Druck nicht mehr ausgewichen werden kann, dann muss man von einem externen Zwang reden.

  • Am 26. November 2011 um 21:52, von  Daniel Als Antwort Die Eurozone - ein demokratiefreier Raum?

    Ein freiwilliges (!) Hilfsangebot an bestimmte Bedingungen zu knüpfen kann man doch nicht Zwang nennen. Die europäischen Verträge sehen bislang ja ausdrücklich nicht vor, dass Mitgliedstaaten für die Schulden anderer Mitgliedstaaten haften. Wenn Mitgliedstaaten trotzdem zu einer solchen Maßnahme bereit sind, ist es also ihr gutes Recht zu sagen: „Das machen wir nur zu bestimmten Konditionen.“ Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Wenn die anderen Mitgliedstaaten Griechenland bedingungslos helfen müssten könnte Griechenland diese anderen Staaten erpressen. Griechenland kann sich frei entscheiden, was es für schlimmer hält, die Konditionen der anderen Staaten oder den Verzicht auf ihre Hilfe. Wir sind uns einig, dass der Verzicht auf die Hilfe für Griechenland eine Katastrophe wäre, aber dass diese Alternative so schlecht ist, ist nicht die Schuld der anderen Mitgliedstaaten. Von Zwang würde ich dann reden, wenn die anderen Staaten gezielt die alternative Situation verschlechtern würden, um Griechenland dazu zu drängen, die Hilfe anzunehmen.

    Wie gesagt kann man eine moralische Pflicht sehen, Griechenland in dieser Notlage zu helfen, aber das steht auf einem ganz anderen Blatt

  • Am 27. November 2011 um 10:42, von  Christoph Als Antwort Die Eurozone - ein demokratiefreier Raum?

    Das „Hilfsangebot“ ist doch keins und schon gar nicht freiwillig. Es handelt sich hier recht eindeutig um ein Programm zur Selbsthilfe oder besser gesagt: Selbstschutz. Man will verhindern, dass das Griechische Buschfeuer zu einem europaweiten Flächenbrand wird. Die Kernstaaten haben ein verdammt großes Interesse daran, dass Griechenland nicht finanziell havariert. Stichwort: Ansteckungseffekte. Nach Griechenland könnte es recht flott einen der anderen PIIGS erwischen, die in Griechenland investiert haben und das würde zwangsläufig auch auf die Kernstaaten durchschlagen, weil die Finanz- und Wirtschaftsbeziehungen enorm interdependent sind. Oder um es noch einmal in andere Worte zu fassen: Griechenlands, Spaniens, Portugals, Italiens und Irlands Probleme sind unser aller Probleme geworden.

    Gerade weil alle ein großes Interesse an der Stabilität Griechenlands haben, sollten aber auch Lösungen gefunden werden, die alle gleichermaßen – eben solidarisch – tragen und nicht Sparpakete durchgesetzt werden, die eine einseitige und gravierende Belastung für die griechische Bevölkerung sind.

    Das ist mit meinem Verständnis von Solidarität völlig unvereinbar. Auch bin ich mir relativ sicher, dass, hätte es eine reelle Alternative gegeben (also ein seriöses Angebot seitens der Kernstaaten mit einem Investitionsprogramm, etc.), das Griechische Parlament sicher nicht für diese menschenverachtenden drakonischen Sparmaßnahmen gestimmt hätte. Diese Maßnahmen sind der berühmte Schuss ins Knie. Die Wirtschaft schrumpft, die Arbeitslosigkeit steigt, die Schulden steigen – wer, so möchte man fragen, hat sich denn bitte so einen Unsinn ausgedacht?

    „The report prepared by the Bank of Greece (BoG) rinks the alarm bell, fearing an explosion of unemployment over 17% in 2012. (...) Bank of Greece-report states that 500,000 Greek households had not even one employee during the first half of 2011, while during the same period of 2010, the number was 400,000 households.” - http://www.keeptalkinggreece.com/2011/11/24/500k-greeks-have-zero-income-in-first-half-of-2011/

    “Solche Schuldenberge wird man nicht durch Schrumpfung der Wirtschaftskraft los. Obwohl das Land das härteste Sparpaket in Gang setzte, das sich je ein westliches Land außerhalb von Kriegszeiten zumutete, stieg die Verschuldung seit Ende 2009 um 55 Milliarden Euro; gemessen an der Wirtschaftskraft legte sie von zuvor 127 Prozent der Wirtschaftskraft auf nunmehr 167 Prozent zu. Man kann sich keine Muskeln anhungern. “ - http://www.gaborsteingart.com/

    „In Griechenland erhalten Arbeitslose für höchstens ein Jahr Arbeitslosengeld. Danach gibt es keine Hilfe vom Staat mehr. Die Familien ohne Einkommen würden von Verwandten unterstützt oder seien auf die Hilfe von kirchlichen und anderen humanitären Organisationen angewiesen, berichtete die Athener Zeitung“Kathimerini".

    Unterdessen vermeldete die Hilfsorganisation „Ärzte der Welt“, die in Griechenland vier Anlaufstellen für Menschen ohne Zugang zur Gesundheitsversorgung unterhält, einen dramatischen Anstieg der Patientenzahlen. Die kostenlosen medizinischen und psychosozialen Hilfsangebote würden nun auch vermehrt von griechischen Staatsbürgern aufgesucht. Ursprünglich waren die Anlaufstellen für Flüchtlinge und Asylsuchende gedacht." - http://derstandard.at/1319183685013/Krisenfolgen-Halbe-Million-Griechen-ohne-Einkommen

    Da braut sich doch ein unglabliches soziales Spannungspotenzial zusammen. Kein Parlament der Welt hätte so einem offensichtlich unsinnigen neoliberalen Todspar-Programm aus freien Stücken zugestimmt, einem Programm mit dem Potenzial die soziale Ordnung völlig zusammenbrechen zu lassen. Von Freiwilligkeit kann hier kein Bisschen die Rede sein!

  • Am 28. November 2011 um 23:20, von  Daniel Als Antwort Die Eurozone - ein demokratiefreier Raum?

    Dass es im ureigensten Interesse der anderen Euro-Staaten ist, Griechenland zu helfen, da sind wir uns absolut einig. Dass man den bisherigen Vorschlag unsolidarisch finden kann, ist auch korrekt. Die vielen mahnenden Rufe, dass die vorgeschlagenen Maßnahmen die griechische Misere nicht lösen werden, sind ernst zu nehmen. Dabei handelt es sich aber in meinen Augen letztenendes um einen politischen Konflikt um verschiedene Auffassungen einer guten (gerechten) Wirtschaftspolitik. Dass das griechische Parlament lieber einen Vorschlag annehmen würde, der ein umfangreiches Investitionspaket enthielte, ist auch klar, aber das wäre eben ein weitergehender freiwilliger Vorschlag derjenigen Staaten, die dieses Paket bezahlen würden. Man kann der Meinung sein, ein solches Investitionspaket wäre mehr im Interesse auch der anderen Eurostaaten und man kann selbstverständlich auch der Meinung sein, ein solches Paket wäre aus Gründen der Solidarität geboten, aber das bleiben dann immer politische Erwägungen, die die demokratisch gewählten Organe der anderen Eurostaaten zu treffen haben. Niemand ist ein Erpresser, nur weil er seinem Gegenüber nicht die Angebote macht, die dieser gerne hätte (und wenn er diese Angebote nicht macht, obwohl sie auch für ihn selbst besser wären, dann ist er allenfalls ein Dummkopf).

  • Am 29. November 2011 um 20:06, von  Christoph Als Antwort Die Eurozone - ein demokratiefreier Raum?

    Hallo Daniel,

    wie es scheint stimmen wir in vielen Punkten überein. In der zentralen Frage haben wir wohl aber einfach eine unterschiedliche Auffassung. Ich kann deine Argumentation zwar nachvollziehen, würde aber weiterhin bei meiner Sichtweise verbleiben. Ich fand die Diskussion sehr spannend und freue mich, dass der Artikel so kontrovers debattiert wurde. Immerhin ist die angestoßene Debatte in meinen Augen Hauptziel eines jeden Artikels.

    Grüße, Chris

  • Am 29. November 2011 um 22:54, von  Daniel Als Antwort Die Eurozone - ein demokratiefreier Raum?

    Hallo Christoph, dem kann ich mich nur in jeder Hinsicht anschließen, danke für den interessanten Artikel und die daran anknüpfende Diskussion. Viele Grüße, Daniel

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